Das Institut für Volksgesundheit, Sciensano, ist die wissenschaftliche Einrichtung, die im Auftrag der föderalen Gesundheitsministerin über den Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie in Belgien wacht. Wie dieser Kampf im Detail geführt wird, war ja schon des Öfteren Gegenstand von Polemiken.
Aber spätestens seit Dienstag befindet sich nun das Institut für Volksgesundheit selbst unter Beschuss. Und zwar ziemlich heftig. Pikanterweise durch andere wissenschaftliche Institutionen. Genauer gesagt durch die Königliche Akademie für Medizin und die Königliche Akademie der Wissenschaften.
Monopolstellung
Sie kritisierten die Monopolstellung von Sciensano in Sachen Corona-Krisenmanagement. Und warfen dem Institut für Volksgesundheit in einem Kommuniqué am Dienstag vor, willkürliche und undurchsichtige Entscheidungen zu treffen. Und die Akademien fordern, dass auch ihre Expertise berücksichtigt wird. Jetzt, da sich die Lage positiv entwickele, sei es Zeit, zu überdenken, wie das belgische medizinische Vorgehen erarbeitet werde.
Als die Epidemie im Land ausbrach, habe das zu einer Panik geführt und zu Entscheidungen, die in aller Dringlichkeit und überhastet getroffen wurden. Es habe keinen Krisenplan gegeben, obwohl seit dem Corona-Ausbruch in China viel Zeit vergangen war.
Generell sei die Handhabung des Lockdowns und der anschließenden Aufhebung der Beschränkungen durch Sciensano undurchsichtig gewesen und infolgedessen auch die Umsetzung durch die Behörden, beklagten die Akademien. Mehr noch: Es habe eine Reihe von Entscheidungen gegeben, die das Land in Gefahr bringen. Sie müssten erläutert und überprüft werden.
Masken und Tests
Ganz konkret greifen die Akademien die Empfehlungen des Instituts für Volksgesundheit in punkto Maskentragen an. Zuerst habe es geheißen, die Masken seien nicht notwendig, wie der ständige Sekretär der Akademie der Wissenschaften, Didier Viviers, in der RTBF sagte. Das habe sich erst geändert, als die Akademie für Medizin darauf bestand. Laut den Königlichen Akademien sollte so die mangelnde Verfügbarkeit der Masken und eine fehlende Vorbereitung kaschiert werden.
Entsprechendes gelte für die Beschränkung der diagnostischen Tests für Menschen, die zwar mit Infizierten in Kontakt gewesen seien, selbst aber keine beziehungsweise noch keine Symptome gezeigt hätten. Und das, obwohl gerade diese Menschen eine wichtige Quelle bei der Verbreitung des Virus darstellen.
Auch bei den serologischen, also den Bluttests, kritisieren die Akademien Inkohärenzen, zum Beispiel, weil die Verwendung von und die Kostenerstattung für Schnelltests weiter untersagt seien. Obwohl eine Million dieser Tests bestellt worden seien.
Ein weiteres Problem seien die sogenannten sero-epidemiologischen Studien. Diese seien essentiell, um der genauen Verbreitung des Virus im Land zu folgen. Aber die Statistiken seien unzuverlässig, weil die entsprechenden Initiativen lokaler Natur und nicht koordiniert seien.
Contact Tracing
Auch beim Contact Tracing müsse dringend nachgebessert und präzisiert werden. Didier Viviers bereitet hier unter anderem der Schutz und die Vertraulichkeit der erfassten Daten Kopfzerbrechen. Nicht nur wegen der schieren Menge sensibler und nicht-anonymisierter Daten, sondern auch, weil so viele Menschen Zugriff auf diese Daten hätten.
Dennoch betonten die beiden Akademien, dass jetzt nicht die Zeit für Reue, sondern für ein entschiedenes Handeln sei. Ansonsten befürchteten sie Schlimmes, wenn Belgien sich mit einer zweiten Corona-Welle oder einer anderen Pandemie konfrontiert sehe. Um zu erreichen, dass das Krisenmanagement bei der Bevölkerung wieder Vertrauen und Glaubwürdigkeit zurück erlange, müsse Sciensano mit den Akademien zusammenarbeiten. Damit Entscheidungen transparent, unabhängig und kohärent getroffen werden könnten.
Sciensano empört
Das Institut für Volksgesundheit reagierte empört: Sciensano berate nur. Das Kommuniqué der Königlichen Akademien sei ungerecht, so ein recht verärgerter Christian Léonard, Generaldirektor des Instituts für Volksgesundheit, in der RTBF. Es sei inkorrekt, nicht zutreffend und unfair gegenüber der Arbeit, die man bei Sciensano mache.
Und es sei auch ungerecht gegenüber den Behörden und der Politik. Diese hätten nicht improvisiert. Außerdem habe es sich um eine große und plötzliche Krise gehandelt. Man habe gar nicht anders handeln können, als man es getan habe.
Boris Schmidt