D-Day für die Geschäftswelt. "Endlich", denken sich wohl viele, "endlich" dürfen wir wieder öffnen. Viele hatten eigentlich darauf gehofft, dass der Nationale Sicherheitsrat ihnen schon eine Woche vorher Grünes Licht gegeben hätte...
Jetzt darfs aber losgehen. "Und wir sind bereit", versicherte Danny Van Assche, der Geschäftsführer der flämischen Mittelstandsvereinigung Unizo, in der VRT. Unsere Mitglieder freuen sich riesig; die Geschäftsleute haben sich auf diesen Tag auch sehr gut vorbereitet. Alles wurde getan, damit alles so sicher wie möglich ablaufen kann:
Und, in der Tat: Die großen Geschäftsstraßen und Shoppingcenter haben sich im Vergleich zu früher mitunter doch ziemlich verändert. Vielerorts wurde ein "Verkehrsleitsystem" eingerichtet: Neben einer Zugangskontrolle gibt's auch Pfeile auf dem Boden, die dafür sorgen sollen, dass die Menschen sich nicht begegnen. So etwas gilt manchmal sogar in ganzen Fußgängerzonen.
In einigen Geschäften wurde sogar quasi Einbahnverkehr eingeführt: Es gibt nur eine Richtung, eine Route, die den Kunden vom Eingang durch alle Gänge zur Kasse führt. Umkehren verboten. Nicht zu vergessen: die unzähligen Plexiglasscheiben, die installiert wurden, um die Kunden und das Personal etwa an den Kassen deutlich voneinander zu trennen. Und überall steht natürlich Desinfektionsmittel für die Hände zur Verfügung.
Und doch haben diverse Politiker und Gesundheitsexperten Bauchschmerzen angesichts dieser neuen Phase der Lockerungen. Und sie haben diese Bauchschmerzen auch zum Ausdruck gebracht. Von der Politik gab es Aufrufe nach dem Motto: "Wir hoffen, dass die Geschäftsstraßen jetzt nicht hemmungslos überrannt werden".
Der Einzelhandelsverband Comeos hatte das zwar auch so oder so ähnlich formuliert, doch gibt es auch Branchenvereinigungen, die solche Appelle zur Mäßigung ausdrücklich bedauern. "Lasst die Menschen doch bitte in die Geschäfte kommen", sagte Isolde Delanghe von Mode Unie, dem Verband der Bekleidungsgeschäfte, in der VRT. Die Menschen halten sich jetzt schon seit acht Wochen an die Regeln. Und das werden sie auch in Zukunft tun, das ist schlicht eine Frage des Bürgersinns. Wir werden schon nicht überrumpelt, wir sind vorbereitet.
Den, man könnte sagen, "Königlichen Segen", den haben die Geschäftsleute jedenfalls. König Philippe hat sich gestern in Brüssel selbst ein Bild von der Lage gemacht. Er besuchte einige Geschäftsleute und sprach ihnen Mut zu. "Wir sind uns dessen bewusst, wie sehr die Geschäftsleute haben leiden müssen", sagte König Philippe. Er wünsche ihnen viel Mut für die kommenden Tage. Und er hoffe, dass die Kunden kommen werden, er sei da zuversichtlich.
"Zuversichtlich" ist der König, Gesundheitsexperten würden dieses Wort wohl nicht unbedingt in den Mund nehmen. Also, er sei da hin- und hergerissen, sagte Dr. Jean-Luc Gala, Experte für Infektionskrankheiten und Chefarzt am Brüsseler Saint-Luc-Krankenhaus. Auf der einen Seite sei ihm bewusst, dass man die Ausgangsbeschränkungen nicht endlos lange aufrechterhalten kann; dann drohe der wirtschaftliche und soziale Erstickungstod.
Auf der anderen Seite gehen die Lockerungen im Moment aber doch allzu schnell vonstatten. Und dann droht ein anderer Erstickungstod, diesmal der des Gesundheitssystems. "Wir sitzen hier zwischen zwei Stühlen", sagt Jean-Luc Gala.
Das Hauptproblem seien die Begleitmaßnahmen, die mit solchen Lockerungen einhergehen müssen: Viele würden viel zu langsam umgesetzt, und andere Empfehlungen seien gar nicht berücksichtigt worden.
"Die zweite Welle, die kommt bestimmt", sagt denn auch Jean-Luc Gala. Die Frage ist nur, ob wir sie in den Griff bekommen werden. Entweder, es wird sich um kleine Infektionsherde handeln, die wir schnell unter Kontrolle bekommen. Dafür gibt es die Begleitmaßnahmen der Regierung. Die müssen dann aber auch funktionieren. Anderenfalls bekommen wir eine unkontrollierte Ausbreitung. Und dann droht das Gesundheitssystem zu implodieren:
Aus diesen Aussagen spricht eine deutliche Warnung: Wenn wir nicht alle gemeinsam Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen, dann könnte die derzeitige Entspannung nur von kurzer Dauer sein. Um es mit den Worten von Jean-Luc Gala zu sagen: Wir sind am Scheideweg...
Roger Pint