"Wer macht das Licht wieder an?", fragt sich schon die Zeitung Le Soir. Denn, in der Tat: Es ist, als habe einer am 26. Mai einen Schalter ausgeknipst und die föderale Ebene in Dunkelheit gehüllt.
Naja, um im Bild zu bleiben: Die Festtagsbeleuchtung funktioniert schon seit fast einem Jahr nicht mehr. Im Dezember 2018 war die Regierung Michel gestürzt - in zwei Phasen. Erst verließ die N-VA die Koalition, zehn Tage später, am 18. Dezember, reichte Charles Michel dann seinen Rücktritt ein. Das war also vor fast 320 Tagen. Seither ist die Regierung nur noch geschäftsführend im Amt.
"Hatten wir doch schonmal, und das sogar während 541 Tagen", könnte man da jetzt sagen. Nur gibt es da einen entscheidenden Unterschied: Die damalige Regierung Leterme war zwar tatsächlich auch nur geschäftsführend im Amt, sie verfügte aber immer noch über eine Mehrheit im Parlament. Diesmal ist das anders: Nach dem Abgang der N-VA war es ohnehin nur noch ein Minderheitskabinett. Und dieser Zustand wurde durch die Wahl dann nochmal verschärft.
Nachdem die Regierungsparteien allesamt abgestraft wurden, verfügt die amtierende Regierung jetzt noch über stolze 38 Sitze im Parlament. 38 von 150, das ist, mit Verlaub, ein Witz - das ist genau die Hälfte der Mehrheit.
Lame Duck
Das macht die amtierende Regierung also doppelt handlungsunfähig: nicht nur, dass sie eben nur geschäftsführend im Amt ist und eigentlich keine "neuen" Entscheidungen mehr treffen darf, auf Hilfe aus dem Parlament kann die Regierung auch nicht zählen, da sie eben nicht mal ansatzweise eine Mehrheit hat. Also: eine Lame Duck, wie der Amerikaner sagt, eine lahme Ente - und das gleich in doppeltem Sinne.
Bis zur Wahl am 26. Mai hatte die Koalition noch mehr oder weniger versucht, die Fassade aufrecht zu erhalten. Das Wahlergebnis muss dann aber wie ein Erdbeben gewirkt haben. Die drei verbleibenden Regierungsparteien sind seither in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Ein enormes Stühlerücken hat eingesetzt. Zwei von ihnen, nämlich MR und CD&V, sind gerade im Begriff, ihre Führungsspitze zu erneuern.
Die MR hat sich buchstäblich geköpft: Mit Charles Michel und Didier Reynders sind gleich die beiden Schwergewichte, die die Partei in den letzten 20 Jahren geprägt haben, von der nationalen Bühne verschwunden. Charles Michel hat ja am Wochenende sogar schon seinen Posten als Premier geräumt. Didier Reynders ist "noch" Außen- und Verteidigungsminister, bis er auch zur EU wechselt.
Bei der CD&V hat sich der bisherige Parteichef Wouter Beke selbst versetzt, hat für sich einen Platz in der flämischen Regierung ausgehandelt. Beke hinterließ gleich mehrere vakante Stühle: Gerade erst hatte er den Parteifreund Kris Peeters als föderalen Vizepremier und Wirtschaftsminister Kris Peeters ersetzt, da ging er auch schon wieder. Zu den beliebtesten Quizfragen unter Journalisten gilt seither: "Wer ist der oder die neue föderale Wirtschaftsministerin?" Es ist die CD&V-Politikerin Nathalie Muylle, ein - mit Verlaub - bislang doch eher unbeschriebenes Blatt.
Massenflucht
Im Einzelfall mag es vielleicht noch nachvollziehbare Gründe für den einen oder anderen Personalwechsel geben. Und auch die Qualitäten der Ersatzleute sollen damit nicht infrage gestellt werden. Aus der Vogelperspektive mag das Ganze aber dann doch eher wie eine Massenflucht wirken. Kein Wunder also, dass man - wie Le Soir - zuweilen den Eindruck bekommt, da habe einer das Licht ausgemacht. Zumal im Moment ja auch nicht wirklich ein heller Schimmer am Ende des Tunnels zu erkennen ist.
Das Ganze wäre ja nicht weiter schlimm, wenn's dann noch eine Aussicht auf eine neue Regierung gäbe. Die gibt es aber nicht wirklich. Wie Le Soir berichtet, seien die beiden Vor-Regierungsbildner Geert Bourgeois und Rudi Demotte zwar redlich bemüht, so wirklich weiter seien sie aber noch nicht gekommen.
Und genau hier setzen einige Altpolitiker an. Das Ganze scheint nämlich allenfalls nur noch Schulterzucken hervorzurufen. Nach dem Motto: "Wir haben keine Regierung? Wen kümmert es?". Das scheint sich sogar auf die Bürger zu übertragen, glaubt Le Soir: Die Bürger haben vielleicht noch keine Fahnen rausgehängt, wie bei der letzten Blockade, aber vielleicht ist diese Indifferenz letztlich noch schlimmer.
"Belgien steht auf Messers Schneide", warnt die PS-Altmeisterin Laurette Onkelinx. Und auch MR-Kollege Louis Michel und andere schlagen Alarm. "Es fehle offensichtlich der gemeinsame Wille, noch etwas zusammen auf die Beine zu stellen". Lange kann das nicht mehr so weitergehen. Neuwahlen wären allerdings extrem gefährlich, sind sich die Altpolitiker einig. Nicht nur, dass die Extreme wohl dadurch nur noch weiter gestärkt würden, das Ganze bekäme fast schon den Charakter einer Schicksalswahl über die Zukunft des Landes.
Eine Regierung im Leerlauf, die leerläuft. Eine Koalitionsbildung, die auf der Stelle tritt. Die Frage könnte auch lauten: "Gibt es überhaupt noch jemanden, der wieder das Licht anmachen will?".
Roger Pint