Seit 1961 gibt es das Gesetz: Wer anderen Menschen in Not nicht hilft, kann in Belgien strafrechtlich verfolgt werden. Um in einem Prozess eventuell auch verurteilt zu werden, müssen zunächst vier Voraussetzen erfüllt werden.
Michael Fernandez-Bertier, Anwalt und Dozent für Strafrecht, erklärt: "In einem möglichen Prozess müsste die Staatsanwaltschaft vier Dinge nachweisen: Erstens, dass es sich um eine wirklich bedrohliche Notsituation gehandelt hat. Zweitens, dass die angeklagte Person Hilfe verweigert hat. Drittens, dass es keine Gefahr für die Person bedeutet hätte, zu helfen. Und dass also viertens die Person freiwillig und bei vollem Bewusstsein darauf verzichtet hat, zu helfen." Im Fall von Kortrijk wird die Staatsanwaltschaft diese vier Punkte jetzt alle zunächst prüfen, bevor sie womöglich Anklage erhebt.
In Kortrijk war einem Mann schlecht geworden, der zuvor am zentralen Marktplatz auf einer kleinen Mauer gesessen hatte. Der Mann fiel dann von der Mauer runter, lag hilflos am Boden - und vorübergehende Passanten liefen einfach an ihm vorbei, ohne zu helfen. Letztlich starb der Mann.
Die acht Personen, gegen die die Staatsanwaltschaft jetzt ermittelt, konnten dank Bilder der Überwachungskameras identifiziert werden, die das Geschehen auf dem Marktplatz filmen. "Auf den Bildern", so sagt es Tom Janssens, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Kortrijk, "haben wir gesehen, dass acht Personen innerhalb von zwei Stunden an dem Mann vorbeigehen. Sie sehen, in welchem Zustand er sich befindet, wie er auf dem Boden liegt. Aber sie tun nichts."
Rund 100 Verfahren pro Jahr
Fälle von unterlassener Hilfeleistung, die von der Staatsanwaltschaft aufgegriffen werden, sind übrigens gar nicht so selten, wie es zunächst scheint. In Brüssel leitet die Staatsanwaltschaft pro Jahr rund 100 solche Verfahren ein wie jetzt in Kortrijk. Sagt zumindest Denis Goeman, Sprecher der Staatsanwaltschaft in Brüssel.
Dabei gehe es dann um ganz unterschiedliche Fälle, Goeman nennt Beispiele: "Man kann an einen Drogenabhängigen denken, der einem anderen Drogenabhängigen nicht hilft, der eine Überdosis genommen hat. Oder an eine Schlägerei, wenn anwesende Personen nicht eingreifen, obwohl sie das ohne Gefahr für ihre eigene Sicherheit tun könnten."
"Would you react"
Dass Hilfe eigentlich immer möglich ist, auch bei körperlichen Aggressionen, macht Ludovico Franchini vom belgischen YouTube-Filmteam "Would you react" klar. Das Team betreibt seit fünf Jahren einen eigenen Kanal auf der Internetplattform YouTube - mit dem Ziel, Menschen zur Hilfe für andere Menschen zu bewegen, wenn diese in Not sind.
"Wenn bei einer Schlägerei zum Beispiel der Angreifer sehr aggressiv ist und auch für einen selbst eine Gefahr darstellt, man also nicht selbst physisch eingreifen will", sagt Franchini, "dann kann man sich aber zum Beispiel einfach ein wenig entfernen von der Schlägerei und den Notarzt rufen. Das wäre schon eine ganz wichtige Handlung. Es gibt keine unwichtigen Hilfestellungen. Intelligente Hilfe ist immer gut."
Kay Wagner
Es stellen sich schon einige Fragen. Wenn der Mann an einem kameraüberwachten Platz 2 Stunden lang auf dem Boden lag, wieso hat kein Polizist dies auf den Bildschirmen gesehen? Oder befinden sich auch Polizisten unter den Angeklagten?