"Jeder weiß, dass sie nicht mehr die Wahrheit sagen. Das geht doch nicht!" Einen Moment lang hatte Elio Di Rupo die Fassung verloren. Charles Michel wartete, bis er wieder an der Reihe war, um dann kühl und souverän zu kontern: Für ihn gehörten Schimpfworte nicht in einen Wahlkampf. Ihm sei es allein wichtig, dass Transparenz herrsche, dass die Wähler wissen, was in den Parteiprogrammen steht.
Bei alledem ging es übrigens nicht um die Kaufkraft oder die Pensionen, sondern um die Migrationspolitik. Michel hatte der PS vorgeworfen, die Sozialisten wollten illegal in Belgien lebende Migranten regularisieren. "Kann das nicht endlich mal aufhören, dass die Liberalen Unwahrheiten verbreiten", brüllt Di Rupo.
Bis dahin war die Debatte noch einigermaßen gesittet abgelaufen. Im Grunde war nach der ersten Frage schon alles gesagt. Warum würden Sie nicht PS wählen, wird Charles Michel gefragt: Weil die Politik der Sozialisten zu einer Verarmung führen wird; weniger Jobs; mehr Steuern für die Mittelklasse. Die Liberalen wollten ihrerseits die Beschäftigung stimulieren - und dadurch auch die Finanzierung der sozialen Sicherheit gewährleisten.
Er werde seinerseits nicht für die MR stimmen, weil die Liberalen schon für eine Verarmung gesorgt haben, erwidert Elio Di Rupo. Die MR habe schließlich einen Indexsprung durchgesetzt und wolle das fortsetzen. Die Liberalen haben die Akzisen auf Diesel und auch die Mehrwertsteuer auf Strom angehoben. Unterm Strich habe das die Bürger 19 Milliarden gekostet.
Danach listeten beide die Kernpunkte ihrer Programme auf. Die Sozialisten wollen etwa das Rentenalter wieder auf 65 Jahre senken. In vielen Branchen sei es doch unmöglich, bis 67 zu arbeiten, sagt Di Rupo. "Sehen Sie einen Feuerwehrmann noch mit 67 seinen Job machen?" "Mein Gott, dafür plädiert doch keiner", reagiert Michel. "Wir werden so schnell wie möglich die Liste der schweren Berufe ausarbeiten und wir werden auch die kleinen Pensionen weiter anheben." Michel erläuterte seinerseits noch einmal die Steuerreform, die den Liberalen vorschwebt. Resultat: 1.000 Euro pro Jahr mehr in der Tasche.
Wer glaubt den Engagements der Liberalen denn noch, reagiert Di Rupo. "Hatten Sie nicht vor der Wahl erklärt, nicht mit der N-VA koalieren und auch nicht den Index antasten zu wollen?"
Charles Michel bezeichnete seinerseits einige PS-Ideen als Luftschlösser: Die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich? Oder die Reichensteuer? Illusionen. Die Reichensteuer etwa würde nicht die Reichen treffen. Die könnten ihr Geld ins Ausland verschieben. Nein, eine solche Steuer würde vor allem die Mittelklasse treffen.
Szenenwechsel: ein VRT-Fernsehstudio. Der liberale Spitzenkandidat für die Europawahlen, Guy Verhofstadt, ist gerade dabei, sein Programm zu erläutern, als plötzlich junge Menschen aufstehen und sich ins Bild stellen. "Kann mal einer diese Leute entfernen", sagt Moderator Lieven Verstraeten.
Die Leute bleiben aber stehen, stumm, mit einer Maske auf dem Gesicht. Und plötzlich regnet es Konfetti. "Haben wir schon Karneval", fragt Verhofstadt.
Wie sich herausstellt, handelt es sich um Klimaschutzaktivisten. Plötzlich wird Verhofstadt laut: "Statt hier eine Aktion durchzuführen, sollten die Leute lieber verstehen, dass wir diese Herausforderungen nur angehen können, wenn wir 'mehr Europa' bekommen.
Roger Pint