"Die Trauer ist unbeschreiblich." "So jung, mit so einer vielversprechenden Zukunft." "So ein liebes und geliebtes Mädchen." "Die Frage lautet immer noch: Warum, warum?." Stimmen, die die VRT in Schilde eingefangen hat, einem Vorort von Antwerpen. Sichtlich betroffene Menschen, die sich im Gemeindehaus in das Kondolenzregister eintragen wollen. Sie alle sind geschockt angesichts des gewaltsamen Todes von Julie Van Espen.
Die 23-jährige Studentin war am späten Samstagnachmittag verschwunden. Ein letztes Mal hatte sich ihr Handy in einen Mobilfunkmast in Merksem eingeloggt; danach nichts mehr. Merksem liegt auf der Strecke, die die junge Frau mit ihrem Rad auf dem Weg nach Antwerpen nehmen wollte. Und dort wurde am Montag auch ihre Leiche entdeckt, im Albert-Kanal.
Quasi zeitgleich hatte die Polizei aber auch schon einen Verdächtigen festgenommen. Bei der Analyse von Bildern von Überwachungskameras war den Ermittlern ein Mann aufgefallen, der in einer Hand einen Korb trug. Und der sah ziemlich genau so aus wie der Korb am Fahrrad von Julie Van Espen. Die Bilder wurden veröffentlicht. Schnell konnte der Verdächtige identifiziert und dann auch aufgegriffen werden. Es handelt sich um den 39-jährigen Steve Bakelmans, einen ehemaligen Obdachlosen mit einem ellenlangen Strafregister. Der Mann wurde stundenlang verhört. Dabei habe er Aussagen gemacht, die den Verdacht gegen ihn noch erhärtet hätten, sagte Caroline Vanderstokker, Sprecherin der Antwerpener Staatsanwaltschaft.
Am Dienstagmorgen sei der Verdächtige dann vom Untersuchungsrichter erneut verhört worden. Dabei habe er ein Geständnis abgelegt, habe ausgesagt, dass er verantwortlich sei für den Tod von Julie Van Espen. Der Untersuchungsrichter habe denn auch Haftbefehl erlassen.
Der Fall scheint damit aufgeklärt zu sein - immerhin. Doch ist das längst nicht das Ende der Geschichte. Für viele lautet die Frage aller Fragen immer noch: Wie kann es sein, dass der Mann überhaupt frei herumlief? Denn nicht nur, dass er der Polizei mehr als bekannt war - eine Zeitung bezeichnete ihn als "Stammkunden der Justiz"-, er ist zudem bereits zwei Mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden: einmal 2004, als er viereinhalb Jahre Gefängnis bekam, und dann nochmal 2017, als er zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Diese Strafe hatte er bislang aber nicht angetreten, weil er Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte. Eigentlich hätte Steve Bakelmans also im Augenblick im Gefängnis sitzen müssen und das lässt bei so manchem die Trauer in Wut umschlagen.
Was ist da passiert? Nun, die Berufung kann die Urteilsvollstreckung aussetzen. Nur kann ein Richter auch die sofortige Festnahme des Verurteilten anordnen. Genau das hatte auch die Staatsanwaltschaft seinerzeit, 2017, gefordert. Der Richter hatte das aber abgelehnt. Aus gutem Grund, rechtfertigte aber ein Sprecher des Antwerpener Erstinstanzgerichtes am Dienstag die damalige Entscheidung: Die sofortige Festnahme eines Verurteilten könne nur angeordnet werden, wenn die Gefahr bestehe, dass er sich der Strafe entziehen wolle. Dafür habe es damals aber keinerlei Anzeichen gegeben, sagte Karel Van Cauwenberghe. Konkret: Der Verurteilte habe sich regelmäßig bei der Justiz gemeldet und zudem in Therapie begeben.
Nächste Frage also: Warum hat das Berufungsgericht den Fall nicht bearbeitet? "Weil der Verurteilte nicht in Haft war", sagte ein Sprecher des Antwerpener Appelationshofes. Vorrangig würden die Berufungsfälle behandelt, bei denen der Verurteilte im Gefängnis sitze. Und dann müsse man eben noch wissen, dass die Gerichte unterbesetzt seien, fügt der Sprecher hinzu. Aufgrund der Sparmaßnahmen des Ministers stünden weniger Richter zur Verfügung - und das mache Verzögerungen unvermeidlich.
Und damit ist direkt Koen Geens angesprochen, der in den letzten viereinhalb Jahren Justizminister war. Er könne auch nicht verstehen, dass der Mann immer noch frei herumlief, sagte Geens in der VRT. Er müsse aber den Rechtsstaat respektieren. Sollte es aber keine guten Gründe dafür geben, dass die Prozedur so lange gedauert hat, dann könne er das nur bedauern.
Zwar ist die Justiz unabhängig, über die zur Verfügung stehenden Mittel entscheidet aber die Politik. Und nicht nur die Opposition, sondern auch Justizvertreter haben dem Minister wiederholt vorgeworfen, dass er den Justizapparat am langen Arm habe verhungern lassen. Die Justiz könnte damit jetzt mit einem Mal zum Wahlkampfthema werden...
Roger Pint