In Frankreich gehen seit Monaten wöchentlich Tausende Menschen auf die Straße und machen, mit gelben Warnwesten bekleidet, ihrem Ärger Luft. In Belgien sind die Proteste der Gelbwesten mittlerweile wieder abgeflaut. Dennoch waren die teils von Gewaltexzessen begleiteten Demos eine Art Warnschuss: Viele Menschen fühlen sich von der Politik vernachlässigt. Politikverdrossenheit und Frustration gelten als Gefahr für die Demokratie.
Eine Forderung - die auch seitens der Gelbwesten immer wieder geäußert wurde - war die nach mehr direkter Demokratie. Das Wahlvolk soll mehr und vor allem direkt an politischen Entscheidungen beteiligt werden.
Marco Van Hees, Abgeordneter der kommunistischen PTB, hat eine konkrete Vorstellung davon, wie das am besten funktionieren würde: "Wenn ein Prozent der Bevölkerung sich für ein Referendum zu einem bestimmten Thema ausspricht, dann wird dieses Referendum abgehalten. Und wenn es eine Mehrheit für den Vorschlag gibt, dann wird dieser umgesetzt. Das Volk entscheidet."
Also alles ganz einfach? Vielleicht doch nicht. Es reicht ein Blick über den Ärmelkanal: Dort hatte das Volk 2016 entschieden. Großbritannien soll aus der EU austreten. Fast drei Jahre später macht Großbritannien eine schwere politische Krise durch, droht im Chaos zu versinken und darüber hinaus den Rest der EU mit in den Strudel zu ziehen. Es könnte einen ungeordneten Brexit mit möglicherweise fatalen wirtschaftlichen Folgen geben. Wie konnte es soweit kommen?
"Die Art, wie beim Referendum über den Brexit manipuliert wurde und wie es instrumentalisiert wurde, ist ein wahrer Skandal", wettert die PS-Politikerin Olga Zrihen. "Jedes Mal, wenn etwas gut läuft, liegt das am Nationalstaat, jedes Mal, wenn etwas schlecht läuft, ist die EU schuld, so ist da manipuliert worden."
Es stimmt schon, dass Fake News und Wahlmanipulationen wohl noch eine größere Gefahr für die Demokratie sind. Bedeutet das also, dass Referenden und Volksentscheide grundsätzlich keine gute Idee sind? Olivier Rubbers, Aktivist des Bürgernetzwerks WeGov, widerspricht. Für ihn war das Brexit-Referendum gar kein richtiges Referendum. Er vergleicht die Abstimmung mit derartigen Entscheidungen in der Schweiz. "Die britische Regierung hat dem Volk die Frage gestellt, obwohl dieses Projekt völlig unausgereift war. In der Schweiz wird nur über fertig ausformulierte Gesetzesentwürfe abgestimmt. Dort wäre das Brexit-Referendum danach vom Höchsten Gericht annulliert worden, weil es ganz eindeutig einen Mangel an Informationen gab."
Volksentscheide, die direkt in Gesetze umgesetzt werden, sind sicherlich ein recht radikales Instrument. Ihre Einführung käme einem Systemwechsel gleich. "Ich bin aber überzeugt, dass unser System bisher zu Wohlstand geführt hat", erklärt der MR-Politiker Fabian Culot. "Aber es kann eben auch manchmal nicht zufriedenstellend sein und deshalb müssen wir moderne Lösungen finden. Diese modernen Lösungen müssen aber nicht unbedingt ein Referendum sein. Das könnten auch Online-Befragungen für lokalpolitische Fragen und Nachbarschaftsprojekte oder Bürgerdebatten sein."
Ein weites Feld, ohne Zweifel. Die Debatte sollte aber definitiv weitergeführt werden. Da sind sich alle einig.
Peter Eßer
Was in der Schweiz gut funktioniert, soll bei uns nicht gut funktionieren?
Was ist daraus zu schließen? Doch nur, dass wir offensichtlich dümmer als die Schweizer sein müssen. Vielen Dank für das Kompliment.
Die Briten erleben derzeit ein Chaos, weil die Verantwortlichen einen schlechten Job machen und offensichtlich mit der Umsetzung des Bürgerwillens überfordert sind. Die Entscheidung für den Austritt ist nichts desto trotz richtig gewesen.
Die Arroganz und Überheblichkeit der so- und/oder selbsternannten Eliten, die glauben am besten zu wissen, was für den dummen Bürger richtig ist, stößt einfach nur ab.
Mehr Demokratie wagen? Darauf dürfen wir wohl noch lange vergebens hoffen.
Offensichtlich haben sie den Artikel oder den Audio-Beitrag nicht richtig verstanden Herr Drescher. Nirgends wurde behauptet, das Schweizer System würde bei uns nicht funktionieren. Es muss allerdings eine Diskussion darüber möglich sein, ob es das richtige Instrument für mehr Bürgerbeteiligung ist.
Dass das Referendum in GB das falsche Instrument war, steht mittlerweile ja wohl außer Zweifel. Auch dass die Entscheidung zum Austritt richtig war, bezweifelt mittlerweile wohl mehr als die Hälfte der Briten.
Abgesehen von einer völlig unzureichenden Vorbereitung und Information der Bevölkerung, aber auch angesichts der Ahnungslosigkeit der britischen Politiker selbst, hätte dieses Referendum so nie stattfinden dürfen.
Eine Entscheidung im Rang einer Verfassungsänderung mit Folgen, die Generationen betreffen, sollte zudem nur mit Zustimmung einer breiten Mehrheit der Bevölkerung und der Parlamentarier erfolgen. Nur so hätte eine Spaltung des Landes und der Gesellschaft vermieden werden können.
Da die Motivation zum Referendum eher macht- bzw. parteipolitischer Natur war, war das Chaos vorprogrammiert.
Nochmal zur Erinnerung: Demokratie heißt "Volksherrschaft", Herrschaft des Volkes und nicht des Kapitals, der Wirtschaft oder irgendeiner extralegalen EU- Kommission!
Demokratie heißt nicht, "wir haben uns alle lieb und alles ist schön", auch nicht Friede, Freude, Eierkuchen und schon gar nicht Einheitsmeinung oder "richtige" und "falsche" Ansichten, "vernünftige" oder "emotionale" Denkweisen.
Und eine volksherrschaftliche Mehrheitsentscheidung ist von der Politkaste umzusetzen! Es macht wütend, zu sehen, wie die Politclowns den Bürger entmündigen nur weil das Volk anders entscheidet, wie man es gerne gehäbt hätte. Ja, Demokratie ist unbequem... Merkel, Junker, Draghi und ähnliche.
Es ist höchste Zeit, dem Volk wieder die Macht zu geben und das nicht nur mit hier und da ein paar Kreuzchen machen zu dürfen. Direkte Demokratie und Volksentscheide sind daher der richtige Weg, auch bzw. vor allem für den Wechsel weg von der EU zu einem vereinten Europa der Menschen! Wir können das!
Es ist schon mal gut, dass über diese Thema diskutiert wird. Und das Desaster um den Brexit ist kein Argument gegen Volksabstimmungen und -endscheide.
In Belgien halte ich sowas für sinnvoll auf Ebene der Gemeinschaften, Regionen und Gemeinden. Auf Föderalebene wäre es wenig sinnvoll, da es zu zusätzlichen Spannungen zwischen Wallonen und Flamen kommen könnte. Die Abstimmung über die Königsfrage hat das gezeigt.