10. Januar: Die vorsitzende Richterin Laurence Massart eröffnet den Prozess gegen Mehdi Nemouche und Nacer Bendrer. Es geht um den Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Die Tragödie gilt als der blutige Auftakt der Welle von Anschlägen, die insbesondere Belgien und Frankreich getroffen haben und die die Terrororganisation IS für sich beansprucht hat.
Ein Blick knapp fünf Jahre zurück: 24. Mai 2014. Es ist der Samstag vor den Wahlen. Ein sonniger Tag. 15:47 Uhr: Ein Mann tritt die Tür zum Jüdischen Museum auf, nicht weit vom Brüsseler Sablon-Platz gelegen. Der Mann stürmt hinein und schießt um sich. Die Szene wird von Überwachungskameras festgehalten. Vier Anwesende werden getötet, beziehungsweise erliegen später ihren Verletzungen. Bei den Opfern handelt es sich um ein Ehepaar aus Israel, das als Touristen das Museum besuchte, eine französische Ehrenamtliche, die dort arbeitete, und einen Angestellten. Der Täter kann fliehen und taucht unter.
Knapp eine Woche später geht Mehdi Nemmouche der französischen Polizei ins Netz. Eher zufällig. An Bord eines Reisebusses war er von Amsterdam nach Marseille gereist. In seiner Tasche befinden sich zwei Waffen. Wie sich schnell herausstellt, sind es die Waffen, die der Täter im Jüdischen Museum in Brüssel benutzt hat. Später wird auch bei Nemmouche eine Kamera sichergestellt, darauf befindet sich ein Film, in dem sich eine Off-Stimme zu dem Anschlag bekennt.
Im Laufe der Ermittlungen wird auch ein Bekannter von Nemmouche verhaftet: Nacer Bendrer. Er soll Nemmouche die Waffen besorgt haben.
Das Verfahren gegen die beiden war mit einer gewissen Spannung erwartet worden, der Prozess wurde in jedem Fall von strengen Sicherheitsvorkehrungen begleitet.
Die Komplott-Theorie
Im Gerichtssaal wird die Atmosphäre relativ schnell giftig, zuweilen fast unerträglich. Weil Nemmouche wohl im Grunde kaum zu verteidigen ist, entscheiden sich seine Anwälte für eine doch fragwürdige, um nicht zu sagen zynische Strategie: Der große Komplott hat seinen großen Auftritt. Schnell wird klar, dass sie ihren Mandanten als Opfer hinstellen wollen. Als einen Mann, der von düsteren Mächten in eine Falle gelockt wurde.
Die Beweise, die die Anklage präsentiert? Gefälscht! Die Zeugenaussagen? Gelogen! Das gelte zum Beispiel für die französischen Journalisten, die in dem Prozess ausgesagt haben. Beide waren über Monate die Geiseln der Terrorgruppe IS in Syrien. Einer ihrer Aufseher und Peiniger, das war Mehdi Nemmouche, da sind sie sich sicher. Am 7. Februar schildern sie ihre schrecklichen Erfahrungen. "Alles erfunden und konstruiert", erwidert sinngemäß die Verteidigung. Und antisemitisch sei Mehdi Nemmouche auch nicht, schließlich habe er doch Schuhe von Calvin Klein getragen.
Aber es kommt noch schlimmer. Die Verteidigung tischt dem Gericht und den Geschworenen das Drehbuch zu einem schlechten Agententhriller auf. Eigentlich sei es bei der Schießerei im Jüdischen Museum in erster Linie um das israelische Ehepaar Riva gegangen. Die beiden seien nämlich Mitarbeiter des Mossad gewesen, des israelischen Geheimdienstes. Deswegen seien sie vom iranischen beziehungsweise libanesischen Geheimdienst ausgeschaltet worden.
Und diese Leute hätten dann Mehdi Nemmouche die Beweise untergejubelt. Mit freundlicher Unterstützung der belgischen Polizei- und Justizbehörden, die dabei geholfen hätten, Beweise zu manipulieren. Die wahren Schuldigen benennen, das könne er nicht, sagte Anwalt Sébastien Courtoy. Denn dann müsse er um sein Leben bangen.
Einem anderen Opfer, nämlich Alexandre Strens, dichteten die Anwälte ein Doppelleben an. "Unfassbar, was man hier zu hören bekommt", sagte dessen Bruder, Daniel Strens. Er sei erschüttert, wolle der Verteidigung aber nicht den Gefallen tun, schockiert zu sein.
Während des ganzen Verfahrens rührten die Anwälte stückchenweise eine Geschichte zusammen, die - in der Summe - auf die angebliche jüdische Weltverschwörung hinauslief. "Komplett verrückt, fast ein Delirium", sagte Michèle Hirsch, die Anwältin der Dachorganisation der jüdischen Vereinigungen in Belgien, CCOJB.
Nemmouche schweigt
Und Mehdi Nemmouche? Der hat neun Wochen lang im Wesentlichen geschwiegen. Als er zum Ende des Prozesses noch einmal das Wort bekommt, spricht er gerade einmal 15 Sekunden lang. 15 Sekunden, um zu sagen, dass er ein Opfer gewesen und in die Falle gelockt worden sei.
"Antwort der Demokratie auf Terrorismus"
Die Jury hat sich von alledem nicht beeinflussen lassen. Nemmouche wurde für schuldig befunden und Nacer Bendrer wurde von den Geschworenen sogar als Mittäter eingestuft. Er könne jetzt die Angehörigen der Familie Riva in Israel anrufen, sagte der Anwalt Marc Libert. Und er könne ihnen sagen, dass ihre Ehre wiederhergestellt sei, dass das Ehepaar nicht mehr für seinen eigenen Tod verantwortlich gemacht wird.
Anwältin Michèle Hirsch sagte einen Satz, der als Fazit durchgehen mag: "Das Urteil ist die Antwort der Demokratie auf den Terrorismus".
Roger Pint