"Das ist, aus meiner Sicht, riesengroßer Unfug. Aber: Die Verteidigung ist frei". Harte Worte von Adrien Masset, der vor dem Brüsseler Schwurgericht das Jüdische Museum vertritt. Gerade hat der Anwalt ein 18-seitiges Dokument bekommen, in dem die Verteidigung ihre Argumentationslinie darlegt. Das Gericht hatte die Anwälte von Mehdi Nemmouche und seinem mutmaßlichen Komplizen Nacer Bendrer dazu verpflichtet.
Nemmouche und Bendrer werden beschuldigt, das Attentat auf das Jüdische Museum in Brüssel ausgeführt bzw. an der Planung beteiligt gewesen zu sein. Am 24. Mai 2014 - das war übrigens der Tag vor der Parlamentswahl -, an diesem Samstagnachmittag stürmt plötzlich ein Mann ins Jüdische Museum, nicht weit vom Brüsseler Sablon-Platz. Er ist schwer bewaffnet und eröffnet sofort das Feuer. Ein Ehepaar aus Israel, das als Touristen das Museum besuchte, wurde getötet, ebenfalls eine französische Ehrenamtliche, die dort arbeitete. Ein Angestellter erlitt schwere Schussverletzungen, denen er später erlag. Tragische Bilanz: vier Tote.
Die Polizei leitet sofort eine Großfahndung ein. Eine knappe Woche später, am 30. Mai, wird in Marseille ein Verdächtiger festgenommen: Mehdi Nemmouche saß in einem Reisebus, der von Amsterdam über Brüssel nach Südfrankreich gefahren war. Bei einer Routinekontrolle werden französische Zöllner auf ihn aufmerksam. In seiner Tasche werden dann zwei Waffen entdeckt, die so aussehen wie die, die der Täter im Jüdischen Museum benutzt hat: ein Kalaschnikow-Sturmgewehr und eine Handfeuerwaffe. Außerdem wird eine Kamera sichergestellt. Darauf befindet sich ein Video, in dem sich eine Stimme aus dem Off zu dem Brüsseler Anschlag bekennt. Die Festnahme des Mannes ist letztlich reiner Zufall.
Mehdi Nemmouche ist beileibe kein unbeschriebenes Blatt. Zwischen Ende 2012 und Anfang 2014 war er in Syrien, wo er sich der Terrormiliz IS angeschlossen hatte. Später wurde Nacer Bendrer festgenommen, wie Nemmouche ein Franzose. Der heute 30-Jährige soll Nemmouche unter anderem die Waffen besorgt haben.
Beide müssen sich jetzt also vor dem Brüsseler Schwurgericht verantworten. Das Verfahren, das unter strengen Sicherheitsvorkehrungen stattfindet, ist jetzt in seine heiße Phase gegangen. Dabei muss man wissen: Die Beweislage ist, sagen wir, nicht eindeutig. In dem Sinne, dass es keinen absoluten materiellen Beweis gibt, dass es tatsächlich Nemmouche war, der damals im Jüdischen Museum um sich geschossen hat. Die Videobilder erlauben keine eindeutige Identifizierung. Und am Tatort wurden keine Spuren entdeckt, die Nemmouche eindeutig zugeordnet werden können.
Genau in diese Kerbe haben dann naturgemäß auch seine Anwälte geschlagen: Die Bilder zeigten, dass der Täter die Eingangstüre mehrmals berührt habe. Auf dieser Türe habe man aber keinerlei DNA-Spuren von Nemmouche sichergestellt. Und auch am Abzug der Pistole habe man nicht das Genmaterial des Angeklagten entdeckt. Auch deswegen bleibe man dabei, dass Nemmouche unschuldig ist, werden beide Anwälte zitiert.
Doch was ist mit den zahlreichen Indizien und Hinweisen, die gegen ihn sprechen? Was ist mit den sichergestellten Beweisstücken? Nun, ihr Mandant sei reingelegt, zum Sündenbock gemacht worden.
Und genau hier kommt jetzt das, was Anwalt Adrien Masset als "Unfug" bezeichnet hat. Eine andere Nebenkläger-Anwältin, Michèle Hirsch, sieht das genauso. Sie vertritt den Dachverband jüdischer Organisationen in Belgien (CCOJB). Die Verteidigung stelle Nemmouche als Opfer dar. Ein Opfer einer "jüdischen Verschwörung", ein Opfer der Ermittler, die ihm wohl Beweise untergejubelt hätten. Die Staatsanwaltschaft habe das Dossier manipuliert.
Beispiel: Der Anschlag sei gar kein Anschlag gewesen, sagte eine Anwältin, kein Anschlag, sondern eine gezielte Liquidierung von Mossad-Agenten. Ein "jüdisches Komplott" also. Warum nicht gleich die "jüdische Weltverschwörung". "Wissen Sie", sagt Anwältin Michèle Hirsch, "die Argumentation der Verteidigung ist auf einer Linie mit dem Antisemitismus von Nemmouche".
Nemmouche hätte am Dienstag ebenfalls zu Wort kommen sollen. Wie schon während der Ermittlungen machte er aber von seinem Recht Gebrauch, die Aussage zu verweigern. Er beteuerte lediglich seine Unschuld: Er habe nicht geschossen. Und er beklagte noch einmal, dass man ihm nicht die Möglichkeit gebe, seine Unschuld zu beweisen, unter anderem, weil man die von ihm benannten Zeugen nicht anhören wolle. Fragen beantwortete er nicht.
Das Verfahren soll noch mindestens einen Monat dauern.
Roger Pint