Sie sei durch Schreie geweckt worden, erinnerte sich Bracha Altman-Rothschild 1992 in der RTBF. Und sie habe gleich gewusst, was da passierte. Am Abend des 3. September 1942 um 20:30 Uhr hatte die Wehrmacht das Marolles-Viertel abgeriegelt. Die Sipo-SD, also die deutsche Polizei, klapperte die Häuser ab, eins nach dem anderen. Alle Juden, die sie finden konnten, wurden festgenommen, erklärt Pascale Falek, Direktorin des Jüdischen Museums, die Situation
Chaos, überall Schreie, schilderte Bracha Altman-Rothschild die Ereignisse. Befehle auf Deutsch, die sie nicht verstand. Sie sei starr vor Angst gewesen, habe sich nicht rühren können, habe nicht mal das Versteck aufsuchen können, das für einen solchen Fall vorbereitet war. Und das habe sie wohl gerettet, sagte Bracha Altman-Rothschild. Ihr Haus sei mit das einzige gewesen, an dem die Gestapo nicht geläutet habe - wohl, weil man den Eindruck haben konnte, dass niemand zuhause war. Bracha hatte Glück, sie entkam der Razzia.
718 Juden wurden verhaftet und deportiert. Das war die Razzia von 1942, erklärt Eric Picard von der Vereinigung für die Erinnerung an die Shoah. 1942 haben die Nazis nur ausländische Juden verhaftet, die also nach Brüssel geflohen waren. Damals wurde den Leuten noch gesagt: "Keine Sorge, wir nehmen nur die Ausländer mit, die belgischen Staatsbürger müssen sich keine Sorgen machen."
Auslöschung aller Juden
Exakt ein Jahr später - zynischer Zufall oder nicht - am 3. September 1943, zeigten sich die wahren Absichten der Nazis: Ihnen ging es um die Auslöschung aller Juden. An diesem Tag wurden alle Juden festgenommen, die man finden konnte, auch die Belgier.
Ähnliche Razzien hatte es auch in anderen großen Städten gegeben - am bekanntesten sind die von Antwerpen. Am Ende werden rund 26.000 belgische Juden deportiert - die meisten von ihnen erst nach Mechelen, in die Kaserne Dossin, und von dort aus ins Todeslager Auschwitz.
Vergleichsweise viele belgische Juden haben den Holocaust überlebt. Sie wurden in Belgien versteckt - bei Familien, in Klöstern. Dazu gehören zum Beispiel der Physik-Nobelpreisträger François Englert oder auch Paul Spiegel, der einstige Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Juden. Oder auch Meyer Zarc, der in der RTBF seine Erinnerungen erzählt. Seine Eltern hatten ihn in einem Kloster untergebracht, wo er den Brüsseler Razzien knapp entkam. Seine große Angst, sagte er, sei es, dass all diese Ereignisse in Vergessenheit geraten könnten.
In Brüssel erinnern jetzt die sogenannten "Stolpersteine" an all die Juden, die von den Nazis deportiert wurden. Am Rande der offiziellen Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der letzten Judenrazzia in Brüssel wurden am Sonntag 50 neue Stolpersteine verlegt.
Roger Pint