Wer in Brüssel das Wort "échafaudage" - zu deutsch: Gerüst - in den Raum wirft, der dürfte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein bizarres Echo hören: "Palais de Justice" nämlich. Gerüst und Justizpalast - fast eine natürliche Assoziation. Das Gerüst gehört zum Justizpalast wie der Justizpalast zu Brüssel gehört.
Das beeindruckende Gebäude überragt weite Teile der Stadt, fast schon wie eine Akropolis. Kaum ein Ort in Brüssel, von wo aus man die imposante Kuppel nicht sieht. Zudem ist der Justizpalast quasi der Endpunkt einer Achse, entlang derer sich die zentralen Symbole des Staates aufzureihen scheinen: der Palais de la Nation mit unter anderem dem Parlament, der Park, das Stadtschloss und dann noch der Verfassungsgerichtshof und der Rechnungshof, bis man schließlich sozusagen auf den Justizpalast "draufläuft".
Nach seiner Fertigstellung im Jahr 1883 war dieser Koloss anscheinend "mal eben" das größte Gebäude der Welt - vielleicht abgesehen von der Cheops-Pyramide. Die bebaute Grundfläche ist jedenfalls sogar größer als die des Petersdoms in Rom. Die Eingangshalle, die in der Kuppel kulminiert, ist fast unglaubliche 100 Meter hoch.
Architekt verlor den Verstand
Das Ganze ist natürlich auch irgendwo der Ausdruck eines gewissen Größenwahns. Dem Architekten Joseph Poelaert, nach dem immer noch der Platz vor dem Justizpalast benannt ist, sagt man sogar nach, er habe während und vor allem wegen des Baus den Verstand verloren. Die Fertigstellung nach 25 Jahren hat Poelaert jedenfalls nicht mehr erlebt.
Was sich, architektonisch zweifellos reizvoll, aber dennoch monströs, heute allein wegen seiner gewaltigen Dimensionen quasi als Wahrzeichen aufzwingt, kam übrigens Ende des 19. Jahrhunderts bei den Brüsselern überhaupt nicht gut an. Dem Justizpalast mussten seinerzeit große Teile des populären Marolles-Viertels weichen. Etwa 100 Bewohner, deren Häuser abgerissen wurden, mussten umgesiedelt werden. "Architekt" war denn auch lange Zeit ein Schimpfwort in Brüssel, eins der übleren Sorte.
Die schiere Größe des Justizpalastes hat sich aber längst als Fluch erwiesen. Ums mal so auszudrücken: Wo so viele Steine verbaut sind, können auch verdammt viele Steine erodieren, abbröckeln, herunterfallen. Ein erster, herber Schlag wurde dem Gebäude während des Zweiten Weltkrieges versetzt. Bei ihrem Abzug aus Brüssel steckten die Deutschen den Justizpalast in Brand - unter anderem die Kuppel. Nur mit Ach und Krach konnte das Gebäude gerettet werden.
Gerüst muss repariert werden
Zwar gab es danach eine Renovierung. In den Folgejahren nagte aber die zunehmend mit Abgasen belastete Brüsseler Stadtluft an der Bausubstanz. Bis man keine Wahl mehr hatte und das Gebäude quasi einpacken musste - eben mit besagtem Gerüst, das heute eben fast schon mit dem Justizpalast verwachsen zu sein scheint. Es gibt Leute, die behaupten, dieses Stahlkorsett stehe schon seit einem halben Jahrhundert da. Häufig wird das Jahr 1982 als Stichdatum genannt.
Dieses vermaledeite Gerüst, beklagte sinngemäß Dirk Van Gerven in der VRT. Van Gerven ist Anwalt und sitzt im Vorstand der Poelaert-Stiftung, die sich die Rettung des Justizpalastes auf die Fahnen geschrieben hat. "Wissen Sie", sagt Van Gerven, "erstmal hatte man das Gerüst nur gemietet. Als man feststellte, dass die Renovierung länger dauern würde, hat man es gekauft. Und jetzt, nach 30 Jahren, jetzt beginnt auch schon das Gerüst, unter den Umweltbedingungen zu leiden."
Gerüst an das Gerüst
"Und jetzt wird es richtig bekloppt", sagt Dirk Van Gerven von der Poelaert-Stiftung, "jetzt sind wir also in der Situation, dass erstmal das Gerüst renoviert werden muss, bevor man die Arbeiten an dem Gebäude fortsetzen kann. Jetzt muss also ein Gerüst an das Gerüst gestellt werden, um die Konstruktion zu reparieren."
Wenn man das hört, dann kann einen eigentlich fast schon nichts mehr wundern. Und da passt eine Aussage fast schon ins Bild, mit der kürzlich der föderale Justizminister Koen Geens zitiert wurde. Der hatte erklärt, dass die Arbeiten wohl erst 2040 abgeschlossen würden. 2040! Damit hätten die Renovierungsarbeiten dann also - Pi mal Daumen - 60 Jahre gedauert. "Ja, das kommt hin", meint resigniert Dirk Van Gerven. Die Giebel müssen renoviert werden. Allein das dauert jeweils drei bis vier Jahre. Da wären wir schon bei 20 Jahren.
Ende der Arbeiten in 2040?
"2040, das kann doch nicht ihr Ernst sein!", reagierte aber erbost der Brüsseler Urbanismus-Schöffe Geoffroy Coomans de Brachène in der RTBF. So könne es doch nicht weitergehen. Es werde langsam Zeit, dass die Föderalregierung jetzt endlich mal politischen Willen zeige und Geld in die Hand nehme.
Und da sei es ihm auch egal, dass seine Partei Teil der Föderalregierung ist, sagt der MR-Politiker. Und er verfüge da auch über Daumenschrauben. Die Gerüste stehen auf dem Boden der Stadt Brüssel. "Notfalls werden wir darauf eben eine Steuer erheben."
Zeigt auch das keine Wirkung, dann ist es am Ende nicht mehr auszuschließen, dass eine ganze Generation den Justizpalast nie anders gesehen hat als "hinter Gittern". Wer "Justizpalast" sagt, der sagt also erstmal weiterhin "Gerüst".
Roger Pint