Montagabend. Das Land ist im Freudentaumel. Viele Menschen bejubeln überschwänglich den Sieg der Roten Teufel bei der Fußball-WM. Gefeiert wird auch in Anderlues, einer kleinen Ortschaft zwischen Charleroi und Mons.
23 Uhr. Zwei junge Männer in Fankleidung sind auf dem Weg nach Hause. In einem kleinen Weg begegnen sie einer jungen Frau. Sie ist offensichtlich Muslima, trägt unter anderem ein Kopftuch. Die beiden Männer versperren ihr den Weg, dann beschimpfen sie die 19-Jährige. Die junge Frau versucht zu fliehen. Und dann brechen offensichtlich alle Dämme. Die Täter reißen dem Opfer erst das Kopftuch vom Kopf, dann auch andere Kleidungsstücke, bis ihre Brust entblößt ist. Und dann fügen sie der Frau auch noch diverse Stichwunden zu - im Gesicht, an den Armen und Beinen, auf der Brust. Man darf das wohl als Folter bezeichnen. Das Ganze untermalt von rassistischen bzw. islamophoben Beschimpfungen.
Erst, als ein Auto anhält und mehrmals hupt, lassen die Täter von der Frau ab. Die stolpert danach ziellos durch die Gegend. Sie will anscheinend ihren Hausarzt aufsuchen, doch ist der nicht zuhause. Einige Nachbarn sehen die Frau und kümmern sich um sie. "Sie war völlig verstört", sagt eine Zeugin in der RTBF.
Polizei und Justiz suchen mit Hochdruck nach den Tätern. Der Bürgermeister von Anderlues zeigte sich geschockt und plädierte in einem flammenden Appell für ein friedliches Zusammenleben in seiner Gemeinde.
"Das ist keine Meldung für die Rubrik 'Verschiedenes'", mahnte am Donnerstag aber eindringlich die Zeitung La Libre Belgique in einem emotionalen Kommentar, mit dem das Blatt wohl auch den Fall nochmal in den Fokus rücken wollte.
Und auch in der Kammer brachten einige Abgeordnete am Donnerstagnachmittag nochmal ihr Entsetzen zum Ausdruck. Eine solch abscheuliche Tat, hier bei uns, im Jahr 2018, einfach unfassbar, sagte etwa die Ecolo-Abgeordnete Muriel Gerkens. Zustimmung von Innenminister Jan Jambon: Auch er sei angesichts dieser abscheulichen Tat angewidert. Applaus im ganzen Halbrund - das kommt auch nicht allzu häufig vor.
Später war es dann aber vorbei mit der Einigkeit, als die Opposition einige Fragen an die zuständige Staatssekretärin für Chancengleichheit richtete, die N-VA-Politikerin Zuhal Demir. Im Grunde war es nur eine Frage, aus dem Mund nacheinander von Nawal Ben Hamou von der PS, der SP.A-Kollegin Monica De Coninck und auch der CDH-Fraktionsvorsitzende Catherine Fonck: Wo bleibt der von Ihnen versprochene Aktionsplan gegen Rassismus?
Die Staatssekretärin gab sich ausweichend. Seit 17 Jahren warte dieses Land auf einen solchen Aktionsplan zur Rassismusbekämpfung. Und sie arbeite dran. Insgesamt wirkte die N-VA-Politikerin in ihrer Stellungnahme recht unterkühlt. Zwar verurteilte auch sie den rassistischen Übergriff, das Ganze wirkte aber eher steril und emotionslos, fast bürokratisch.
Zumindest muss die Opposition das so empfunden haben. Es gab jedenfalls wütende Repliken. Sie hätte sich eine entschlossenere Reaktion gewünscht, sagte Nawal Ben Hamou, und fügte hinzu: "Wie viele solcher Übergriffe muss es noch geben, bis sie reagieren?"
Ähnliche Töne von Monica De Coninck. Es gebe eben Parteien, die nichts lieber tun als zu polarisieren, die Menschen gegeneinander aufzustacheln. "Wir brauchen Veränderung", sagt De Coninck, wird dann aber von Zuhal Demir unterbrochen. Das ist höchst unüblich. Eigentlich müssen die Regierungsmitglieder die Repliken der Abgeordneten schweigend über sich ergehen lassen. Irgendwann platzt auch De Coninck der Kragen. "Wir sind hier nicht auf dem Marktplatz", sagt De Coninck.
Die CDH-Parlamentarierin Catherine Fonck übernahm dann sozusagen die Rolle des Salomon: "Wir können den Kampf gegen Rassismus nur gewinnen, wenn wir ihn gemeinsam führen."
Roger Pint