Katastrophe für den einen, Riesenfortschritt für den anderen. Die Bewertung des Minimaldienstes bei der SNCB fällt je nach Blickwinkel doch ziemlich unterschiedlich aus.
Erstmal die Sicht der Bahndirektion. Bei der SNCB zieht man vorsichtig eine positive Bilanz der Maßnahme. Ursprünglich hatte man angepeilt, dass einer von drei Zügen verkehren sollte. Das sei aber im Grunde nur ein Durchschnittswert gewesen, sagte SNCB-Sprecher Dimitri Temmerman in der VRT. Es sei nämlich so, dass man die Kapazitäten prioritär auf den Morgen und auf den Abend konzentriert habe. Und im Berufsverkehr habe man es dadurch geschafft, dass am Ende sogar die Hälfte der Zugverbindungen garantiert werden konnte.
Der eigentliche Vorteil im Vergleich zu früher sei aber die Planbarkeit, sagt Temmerman. Bislang war es so, dass die Reisenden im Streikfall eigentlich erst am Tag selbst wussten, ob ihr Zug nun fährt oder nicht. Durch die Neuregelung sei es jetzt so, dass der Kunde schon am Abend vorher erfährt, welche Verbindungen gewährleistet werden.
Notfahrplan, so lautet das Zauberwort. Die neue Prozedur sieht so aus: 72 Stunden vor Beginn des Streiks muss jeder Mitarbeiter durchgegeben haben, ob er an dem Streik teilnehmen will oder nicht. So wird das Ganze "planbar". Auf der Grundlage des verfügbaren Personals werden dann nämlich die Mitarbeiter auf Züge verteilt und ein Notfahrplan erstellt. Der muss 24 Stunden vor Beginn des Ausstands veröffentlicht werden. Die Reisenden wissen also früh genug Bescheid und können sich auf den Tag einstellen.
Das kam offenbar recht gut an. Fahrgastverbände wie TrainTramBus ziehen jedenfalls eine positive Bilanz. "Der Minimaldienst sei eine große Verbesserung; jetzt wüssten die Leute wenigstens, was Sache ist".
Die Gewerkschaften sind naturgemäß weniger begeistert. Erstmal über die eigentliche Vorgehensweise. "Wissen Sie", sagt Ludo Sempels von der sozialistischen Gewerkschaft CGSP, "die Leute werden also gefragt, ob sie an dem Streik teilnehmen wollen und müssen dann entsprechend Flagge zeigen. Das kann man als Einschüchterung verstehen. Vielleicht ist das nicht so gemeint, es kommt aber beim Personal so rüber, dass man unter Druck gesetzt wird."
Und dann bleiben da natürlich nach wie vor die prinzipiellen Einwände. Das sei ein eindeutiger Angriff auf das Streikrecht, tobte in der RTBF noch einmal der FGTB-Präsident Robert Vertenueil. Diese Regierung wolle die Gewerkschaften klein kriegen. Man wolle verhindern, dass die Arbeitnehmerorganisationen ihre Rolle als Gegengewicht spielen. Schlicht und einfach, weil diese Regierung kritische Stimmen auf den Tod nicht leiden kann.
"Aber das wird uns nicht entmutigen. Wir werden uns zu wehren wissen", verspricht der FGTB-Chef. Und er denkt da auch an ein vergleichbares Projekt, das Justizminister Koen Geens gerade erst vorgelegt hat. Der will bekanntlich jetzt auch einen Minimaldienst in den Gefängnissen einführen, wobei dieser Vorschlag noch weitergeht als die Regelung bei der Bahn. Geht es nach Geens, dann könnten Gefängniswärter notfalls sogar zum Dienst zwangsverpflichtet werden. Das Rote Tuch wurde für die Gewerkschaften damit sozusagen "noch roter". Die Haftanstalten werden denn auch seit Tagen bestreikt.
Zurück zur SNCB. Die erste Zwischenbilanz erlaubt wohl noch keine wirklich griffigen Rückschlüsse. Zunächst einmal dauert der Streik ja noch bis Samstagabend an. Da kann noch viel passieren. Am Samstag wird wohl auch nur einer von zwei Zügen verkehren, sagt SNCB-Sprecher Dimitri Temmerman. Und, nicht vergessen: Es fahren auch keine Sonderzüge, etwa Richtung Küste. Es ist und bleibt eben doch ein Streik, mit den damit verbundenen Beeinträchtigungen.
Bleibt zudem noch die Frage, was passieren würde, wenn nicht eine, sondern alle Gewerkschaften zum Streik aufrufen würde. Diesmal protestieren ja nur die Mitglieder der sozialistischen CGSP. In dem Fall, wo die Gewerkschaften einmal an einem Strang ziehen, wird man womöglich nicht mehr genug arbeitswilliges Personal finden, um noch einen Minimaldienst aufrechtzuerhalten, der den Namen verdient.
Vielleicht kommt der nächste Testlauf für den Minimaldienst schneller, als es der SNCB wohl lieb wäre. Zwei kleinere Gewerkschaften haben schon zu einem neuen Streik aufgerufen, und zwar gleich für vier Tage, vom 10. bis zum 14. Juli.
Roger Pint