Koalitionsstreit in Deutschland, offene Spannungen zwischen EU-Staaten über das Schicksal des Flüchtlingsschiffes Aquarius. Die Flüchtlingspolitik hat sich gerade in den letzten Tagen als der vielleicht gefährlichste Spaltpilz für den europäischen Zusammenhalt erwiesen.
Drohende Regierungskrise in Deutschland eben wegen der Flüchtlingspolitik, ein italienischer Innenminister, der offensichtlich ernst machen und Methoden anwenden will, die düstere Erinnerungen wecken. Man muss den Eindruck haben, dass ein Knackpunkt erreicht ist. Was beide verbindet: Weil es keinen wirklich einheitlichen, solidarischen EU-Ansatz gibt, ist die Versuchung groß, die eigenen Grenzen einfach zuzumachen.
Eigentlich müsste die Einsicht eine andere sein, meinte der EU-Experte Professor Hendrik Vos in der VRT. Dass niemand für sich alleine das Problem lösen kann, müsste inzwischen eigentlich jedem aufgehen. Entsprechend müsste die Zeit jetzt auch reif dafür sein, dass die EU-Staaten sich jetzt endlich auf einen gemeinsamen Ansatz verständigen. Denn, nehmen wir mal an, Deutschland macht seine Grenzen dicht, sagt Hendrik Vos. Dann werden die Flüchtlinge nach Österreich geschickt. Österreich verweist sie dann seinerseits durch nach Italien. Unterm Strich riskiert man am Ende also neue Tragödien im Mittelmeer.
Dublin-Vereinbarung keine Option mehr
Und auch die sogenannte "Dublin-Vereinbarung" wieder strikt anzuwenden, das ist keine Option mehr. Die besagt ja, dass der Staat, in den der Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen muss. Das wäre in vielen Fällen Italien. Nur: Eben die Tatsache, dass Italien sich von den anderen im Stich gelassen gefühlt hat, hat wohl zur Folge gehabt, dass die Wähler sich Extremen zugewandt haben. Da sind sich Beobachter im Wesentlichen einig. Der neue italienische Ministerpräsident Conte hat denn auch bei seinem Besuch in Frankreich gleich klargemacht, dass dieses Dublin-Prinzip nicht mehr gelten darf. "Wer Italien betritt, der betritt Europa", sagte Conte.
Und dieses Europa braucht eben einen gemeinsamen Ansatz in der Flüchtlingspolitik. Bislang ist das ja immer in erster Linie an der mangelnden Solidarität einiger osteuropäischer Staaten gescheitert. Länder wie Ungarn, Polen oder Tschechien weigern sich grundsätzlich, Flüchtlinge aufzunehmen.
Warum sollte sich das beim EU-Gipfel Ende nächster Woche ändern? Vielleicht, weil es da eine neue Drohkulisse gibt, Italien, aber insbesondere auch die innenpolitische Krise in Deutschland. Kanzlerin Angela Merkel braucht eine Einigung, einen ehrbaren Kompromiss, sonst sieht es innenpolitisch düster aus. Im Moment laufen also die Drähte heiß. Vor und hinter den Kulissen wird unter Hochdruck nach Lösungen gesucht.
Pushbacks
Das gilt aber auch "hausintern", könnte man sagen. Beispiel Belgien. Premier Michel wird nächste Woche den belgischen Standpunkt präsentieren müssen. Nur, wie sieht der aus? Die N-VA - in Person von Asylstaatssekretär Theo Francken - hat da in den letzten Tagen doch mit einigen drastische Aussagen und Vorschlägen jongliert. Beispiel: Er könne die italienische Haltung total nachvollziehen, sagte Francken. "Wir müssen all diese Flüchtlingsschiffe zurückschicken", sagte Francken am Wochenende. "Pushbacks", nennt man das. Und wenn da Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtscharta im Weg steht, nun, dann muss man diesen Artikel eben "umschiffen".
Besagter Artikel 3 besagt, dass man niemanden in ein Land zurückschicken darf, wenn er dort riskiert, unmenschlich behandelt, gefoltert oder getötet zu werden. Für Francken gehört dieses Prinzip also "umschifft". "Nicht mit uns!", reagierte aber der zuständige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos: Keine Pushbacks unter Missachtung der Menschenrechte.
Sammelpunkte
Nächster Vorschlag von Francken: Dann lasst uns das australische Modell anwenden. Würde bedeuten, grob zusammengefasst, dass alle Flüchtlinge erstmal in Lager außerhalb der EU gebracht würden, wo sie dann eben ihren Asylantrag stellen könnten. Australien steht wegen seiner Asylpolitik international zwar in der Kritik. Doch steht eine solche Idee jetzt anscheinend sogar in einem Kompromisspapier des EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk.
Das wäre der Entwurf, der den Staats- und Regierungschefs Donnerstag in einer Woche vorgelegt würde. Das Problem würde damit also gewissermaßen ausgelagert. Frage ist allerdings, wo solche Sammelpunkte eingerichtet werden sollen. Länder wie Tunesien haben da schon längst dankend abgelehnt.
In Belgien jedenfalls droht immerhin unmittelbar kein Koalitionsstreit. Die N-VA macht zwar Druck, will aber offenbar nicht die Brechstange rauskramen. MR und vor allem CD&V haben ihrerseits bekräftigt, dass sie innerhalb der derzeitigen Leitplanken bleiben wollen, insbesondere was die Menschenrechte angeht.
Roger Pint