"Der Bruch ist nötig und muss augenblicklich erfolgen". Mit diesem Satz zündet Benoît Lutgen gegen 13:30 Uhr am 19. Juni 2017 eine Bombe. Eine Atombombe, möchte man sogar sagen. Denn, das gab's noch nie. Lutgen hatte gerade alle Koalitionen mit der PS aufgekündigt, also in der Wallonie, in der Region Brüssel-Hauptstadt und in der Französischen Gemeinschaft.
Nicht nur ein Koalitionsbruch, sondern auch ein Bruch mit der gängigen Praxis. Eigentlich kann man eine Regierung nämlich nur über ein konstruktives Misstrauensvotum kippen, indem man also eine alternative Mehrheit präsentiert. Die gab's aber zu dem Zeitpunkt nicht. Lutgen zieht einfach nur den Stecker, nach dem Motto: Mal sehen, wie es jetzt weitergeht.
So wie damals konnte es doch nicht mehr weitergehen, sagt Lutgen in der Rückschau. Erstmal waren da die ganzen Skandale: Samusocial, Publifin, etc. Und dann sei es eben auch so gewesen, dass die Regierung nicht ihr Programm umgesetzt habe, wie er sich das gewünscht hätte. Er sei da nur konsequent gewesen. Von einem "Verrat" oder dergleichen könne da doch keine Rede sein.
Es gibt Leute, die das naturgemäß etwas anders sehen... Die Sozialisten traf die Entscheidung quasi wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die PS hielt gerade eine Vorstandssitzung ab, als plötzlich das Handy von Parteichef Di Rupo klingelt. Am anderen Ende der Leitung: Benoît Lutgen, der kurz vor seiner Pressekonferenz den bisherigen Koalitionspartner über die Entscheidung in Kenntnis setzt. "Nichts gegen dich", habe der CDH-Präsident noch gesagt und verkündet dann den Bruch, erinnert sich PS-Chef Elio Di Rupo in der RTBF.
Kein fertiger Plan B
Doch nicht nur Elio Di Rupo wird kalt erwischt, das gilt auch für die anderen Parteien. Was politische Beobachter damals zunächst für nur schwer vorstellbar hielten, wird inzwischen von allen anderen Protagonisten bestätigt: Lutgen hatte tatsächlich keinen fertigen Plan B.
MR-Chef Olivier Chastel etwa, der hat von dem Ganzen ebenfalls erst kurz vor der Pressekonferenz erfahren. Da war er - kleine Anekdote - gerade bei Ikea. "Ich leg' also gerade Pakete in meinen Einkaufswagen, als plötzlich mein Handy klingelt", sagt Chastel. Auf dem Display erscheint der Name "Benoît Lutgen", was damals nicht so häufig vorgekommen sei. Naja, und da sei er eben drangegangen.
Ecolo und Défi werden erst Minuten vorher informiert. Und die Begeisterung hält sich bei einigen doch arg in Grenzen. "Sie habe sich gefühlt, wie bei einer Geiselnahme", erinnert sich Ecolo-Ko-Präsidentin Zakia Khattabi. Lutgen stellte uns alle vor vollendete Tatsachen.
Denn jeder kannte schließlich die Sitzverhältnisse: In der Wallonie war eine Mehrheit aus CDH und MR so gerade noch möglich. In Brüssel und in der Französischen Gemeinschaft brauchte man aber mindestens Dreier-, wenn nicht Viererkoalitionen. Heißt: Ecolo und Défi wurden in eine Rolle gedrängt, um die sie nicht gebeten hatten.
Für Défi war die Situation umso komplizierter, als die Partei ja in Brüssel der dritte Koalitionspartner war, neben der CDH und eben der PS. Also, er habe das Ganze richtiggehend in den falschen Hals bekommen, sagt heute Défi-Chef Olivier Maingain. "So geht man nicht mit Partnern um", habe er Lutgen damals gesagt. Und, als Lutgen von ihm quasi erwartet habe, sofort auf den Zug aufzuspringen, habe er nur gesagt: Erst mal langsam.
Défi will das Ganze sacken lassen. Und auch die Grünen greifen nicht blindlings nach der Hand, die ihnen da gereicht wird. Ecolo stellt Bedingungen. Wenn sie mitmachen sollen, müssen erst die Lehren aus den Skandalen gezogen werden. Die Grünen verlangen also insbesondere radikale Maßnahmen zur Abschaffung von Ämterhäufung. Défi schließt sich in der Sache der Forderung an.
Spontanentscheidung?
Schnell muss Benoît Lutgen feststellen, dass nicht alle anderen Parteien freudig auf seinen Zug aufspringen. Und spätestens da wird auch außenstehenden Beobachtern klar, dass das Ganze eben nicht abgesprochen war. Bestätigung von Olivier Maingain und Zakia Khattabi: "Wir hatten den Eindruck, dass da überhaupt nichts vorbereitet war, dass das vielleicht sogar eine Spontanentscheidung war."
"Quatsch", erwidert Lutgen noch heute. Er habe sehr wohl reiflich darüber nachgedacht, ausgehend eben von der Feststellung, dass es so nicht weitergehen konnte.
Bei der liberalen MR hingegen traut man seinen Augen nicht. Ohne auch noch etwas tun zu müssen, bekommen sie die Schlüssel zur Macht im frankophonen Landesteil angeboten. "Selbst der unreligiöseste Liberale muss wohl an ein Wunder geglaubt haben", räumt sogar PS-Chef Elio Di Rupo ein. "Wir waren uns schnell einig, dass wir die Chance ergreifen wollten", sagt jedenfalls Olivier Chastel.
Ecolo und Défi hingegen bleiben am Ende auf Abstand, unter anderem, weil sie dem CDH-Chef nicht glauben, dass er die Dinge grundlegend verändern will. Deswegen kommt es am Ende auch nur in der Wallonie zu einem Machtwechsel. Er bereue dennoch nichts, bilanziert Lutgen. Die Wallonie habe durch die neue Equipe neuen Schwung bekommen, Dinge seien bewegt worden, man habe Fortschritte erzielt, die mit der PS unmöglich gewesen wären.
Im nächsten Jahr wird der Wähler entscheiden müssen, ob er das genauso empfindet...
Roger Pint