"Warum durfte jemand wie Benjamin Herman das Gefängnis verlassen?". "Wie konnte er sich im Gefängnis radikalisieren, ohne dass das anscheinend aufgefallen wäre?". "Muss das System der Hafturlaube strenger reglementiert werden?" Fragen, die sich nach dem Lütticher Anschlag stellen. Fragen, die sich etwa der Vater des getöteten 22-jährigen Cyril Vangriecken stellt, die sich die Bürger stellen. Und die am Donnerstag wohl auch Abgeordnete im Parlament aufwerfen werden.
Die Fragen zu stellen, ist wichtig, schließlich muss man die Lehren aus der Tragödie ziehen. Einfache Antworten darauf gibt es allerdings nach Überzeugung vieler Experten nicht, oder zumindest nicht immer.
Beispiel: Der Themenkreis "Hafturlaub". Magali Clavie richtete in der RTBF einen fast schon flammenden Appell an die Politik und, damit verbunden, auch an die Bürger. Sie ist Vorsitzende des Hohen Justizrates und ehemalige Richterin an einem Strafvollstreckungsgericht. Haftentlassungen, das war also sozusagen ihr täglich Brot. "Um Himmels willen", sagt Magali Clavie: Jetzt möge man bitte keine Reform übers Knie brechen - so tragisch die Ereignisse und so unerträglich die jetzt aufgeworfenen Fragen auch sein mögen.
Ausnahmen bestätigten eben nicht die Regel, sagt die Vorsitzende des Hohen Justizrates. Das System funktioniere eigentlich im Wesentlichen gut. Um es mal in einem Bild auszudrücken: Es ist nicht, weil ein Kurzschluss in einem elektrischen Heizofen ein Feuer ausgelöst hat und dabei drei Kinder ums Leben gekommen sind, dass man dafür elektrische Heizöfen verbieten muss.
Zustimmung von Olivia Nederlandt, Strafrechtlerin an der Universität Saint-Louis. Studien haben gezeigt, dass die Haftentlassung eines Straftäters schrittweise erfolgen müsse. Sprich: Über Freigänge und Hafturlaube wird er auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet, wodurch auch das Rückfallrisiko deutlich vermindert werde. Solche Anträge würden dafür aber immer noch nicht automatisch bewilligt. Und auch die Einhaltung der entsprechenden Auflagen werde ziemlich genau überprüft.
Radikalisierungsproblematik
Was aber natürlich nicht heißt, dass im belgischen Strafvollzugssystem alles perfekt laufen würde. Weit gefehlt. Das größte Problem ist immer noch der himmelschreiende Mangel an materiellen und personellen Mitteln. Sichtbarste Folge ist die Überbelegung der Haftanstalten. Doch auch das Thema Radikalisierung wird immer noch nicht resolut genug angepackt, sind sich die verschiedenen Akteure einig.
"Der Regelfall sieht so aus: Der durchschnittliche Gefängniswärter hat von der Radikalisierungs-Problematik im Grunde keine Ahnung, er ist dafür nicht ausgebildet: Dieser ganze Themenkreis werde im Rahmen von einer einzigen Unterrichtsstunde behandelt", sagt Cosimo Agostino von der sozialistischen Gewerkschaft CGSP.
Das ist der Regelfall. Inzwischen verfügen aber zwei Haftanstalten über eine gesonderte Abteilung, speziell für Häftlinge, die als radikalisiert eingestuft werden. "Das Pilotprojekt "DeRadex" läuft derzeit in den Haftanstalten von Ittre und Hasselt. Doch steht man da anscheinend wirklich erst am Anfang. Schon allein, was die Zahlen angeht: In diesem Flügel sitzen bei uns in Ittre im Moment zwölf Gefangene", sagt David Birra von der liberalen Gewerkschaft SLFP. Damit sind es eigentlich nur die, die als "Rekrutierer" eingestuft sind. Zwölf Gefangene in Ittre - in Hasselt gibt es auch lediglich 20 Plätze. Insgesamt werden aber 237 Gefangene als radikalisiert eingestuft. Das sagt eigentlich schon, was es sagt.
Davon abgesehen, dass die Abteilungen auch nicht so isoliert sind, wie man sich das vielleicht wünschen würde. Man müsse nur das Fenster aufmachen, um mit Mithäftlingen aus anderen Abteilungen reden zu können, sagt Vincent Gontier von der CSC.
"Ungenügende Mittel, also. Darunter leidet eben in erster Linie auch die eigentliche Begleitung der Häftlinge", sagt Strafrechtlerin Olivia Nederlandt. Das gilt für beide Aspekte, die Hafturlaube und auch die Radikalisierungsproblematik. Eine Zahl: Für die Bewachung stehen 600 Millionen Euro zur Verfügung, für die Begleitung der frankophonen Häftlinge dagegen nur sechs Millionen.
Roger Pint