"Dürfen Minister plötzlich doch lügen?", fragt sich provokativ die linksliberale Zeitung De Morgen. Und auch der eher konservative Standaard spricht von "halben Wahrheiten und ganzen Lügen".
Vergiftetes Klima derzeit in Flandern. Alles begann am Wochenende: Zuhal Demir, die frischgebackene N-VA-Staatssekretärin, zuständig unter anderem für Chancengleichheit, gibt nach ihrem Amtsantritt ihre ersten Interviews. Und dabei geht sie gleich voll in die Vollen. Sie mache sich Sorgen um Unia.
Unia, das ist der neue Name des "Zentrums für Chancengleichheit", über das Demir ab jetzt also als föderale Staatssekretärin die Aufsicht hat. Und warum macht sich Demir Sorgen um Unia?
Weil Unia häufiger einseitig Partei ergreife, weil Unia sich quasi ausschließlich auf Rassismus-Klagen konzentriere, während doch Diskriminierungen wegen des Alters oder auch der sexuellen Gesinnung viel häufiger vorkämen.
Und das war nur eins von vielen Argumenten, die Demir vorbrachte, mit immer dem gleichen Teno: Unia ist auf Rassismusklagen fokussiert und dabei katholischer als der Papst. In dem Sinne sei Unia nicht das Zentrum für Chancengleichheit, sondern das für Polarisierung.
Schützenhilfe bekam sie da von der Parteikollegin Liesbeth Homans, die Unia in einer Zeitung ebenfalls mangelnde Neutralität unterstellte. Und das mit drastischen Worten:
"Wenn man eine blonde Frau ist mit blauen Augen, und als Nazi-Prostituierte beschimpft wird, dann braucht man bei Unia gar nicht erst klagen. Die Beschwerde ist aussichtslos"
Im VRT-Interview war die Wortwahl dann doch etwas gepflegter: "Warum geben wir uns nicht eine neue Einrichtung?", fragt sich Homans. Eine neue Einrichtung, die dann dafür sorgt, dass wirklich alle in dieser Gesellschaft eine Chance bekommen, nicht nur eine spezielle Bevölkerungsgruppe.
Erst Demir, dann Homans. Ein offensichtlich koordinierter Angriff der N-VA auf Unia. Nur hatten es beide Damen da eben offensichtlich nicht so ganz genau mit der Wahrheit genommen.
Das flagranteste Beispiel dafür haben die Fact-Checker der flämischen Zeitungen in der Argumentation von Liesbeth Homans entdeckt. Die gab an, dass 47 Prozent der Flüchtlinge nicht lesen und schreiben können. In Wahrheit beläuft sich der Anteil der Analphabeten auf 17 Prozent.
"Was passiert hier gerade?", fragt man sich denn auch bei Unia. "Die Staatssekretärin und die Ministerin stellten hier angebliche Tatsachen und Argumente in den Raum, die zum Teil vorne und hinten nicht stimmen", beklagte etwa Els Keytsman, die flämische Direktorin von Unia, in der VRT.
Der frankophone Direktor glaubt, die Hintergünde zu kennen. "Wir passen offensichtlich nicht ins Bild", sagte Patrick Charlier in der RTBF. Die N-VA habe wohl was dagegen, dass Unia eine föderale Einrichtung ist, die funktioniert, zumal die flämischen Nationalisten doch viel lieber ihr rein flämisches Zentrum hätten.
Der Leitartikler von De Morgen meinte sogar, die N-VA wolle eine Stimme zum Schweigen bringen, die vielen Flamen "mit ihrem Rassismus-Gedöns auf den Wecker geht".
Mal ganz davon abgesehen, und da sind sich die Beobachter einig, dass die Polemik für die N-VA buchstäblich "wie gerufen" kommt, um von der Bracke-Affäre abzulenken.
Im Internet tobt jedenfalls seit einigen Tagen ein regelrechter Sturm. Die linken Oppositionsparteien feuern aus allen Rohren auf die N-VA. Groen und die S.PA beantragten sogar eine Sondersitzung des flämischen Parlaments. Die Mehrheit lehnte das Gesuch aber ab.
Doch auch in der Mehrheit rumort es. Die OpenVLD-Abgeordnete Mercedes Van Volcem meinte auf Twitter, dass Liesbeth Homans doch besser ihre Zuständigkeiten in den Bereichen Einbürgerung und Armutsbekämpfung abgeben soll. Der liberale Fraktionschef Bart Somers beeilte sich später, die Aussage als die "persönliche Meinung" der Kollegin zu bezeichnen. Kein Koalitionsstress also. Noch...
Inzwischen ist die Polemik auch bei den Frankophonen angekommen. Karine Lalieux konnte in der RTBF nur feststellen, dass sich die N-VA mal wieder von ihren Vorurteilen leiten lasse. Was sie aber besonders schlimm finde, sagte Lalieux: Der Premierminister, der beschränke sich darauf, zu schweigen.
Roger Pint - Foto: Eric Lalmand/Belga