Für seine Verhältnisse sei er durchaus wütend, sagt Herman Van Rompuy und klingt dabei aber in Durchschnittsohren, als lese er seinem Enkel eine Gute-Nacht-Geschichte vor... So ist er, der Mann, der für seine Verdienste in den Adelsstand gehoben wurde und den Karlspreis erhielt.
Was den feingeistigen Herman Van Rompuy so wütend macht, das sind die politischen Entwicklungen der letzten Monate. Gestoßen hat er sich vor allem an den Kampagnen vor der Brexit-Abstimmung und der Wahl von Donald Trump. "Was wir gesehen haben, das ist Hass, Aggressivität, Polarisierung, Respektlosigkeit bis hin zu Rassismus", sagte Van Rompuy in der RTBF. Das Ganze war gespickt mit Halbwahrheiten und Lügen, die schon immer dreister in die Welt gesetzt würden, so Van Rompuy. Und das sei neu, in dem Sinne, dass die Lügen inzwischen System haben, nach dem Motto: "Ein bisschen was bleibt immer hängen."
Worte sind schon Handlungen
Diese Entwicklung sei äußerst gefährlich, sagt Van Rompuy. Politiker scheinen zuweilen zu vergessen, dass Worte nicht nur Worte sind, sondern schon Handlungen - in dem Sinne, dass durch Worte schon ein Klima geschaffen werden kann. Sie können zudem - wenn sie aus dem Mund von Demagogen kommen - schon bestehende Ängste anheizen und dabei die Realität verzerren. Erschrocken könne er nur feststellen, dass mehr und mehr ganze Bevölkerungsgruppen in einen Topf geworfen werden.
Angst befördere Verallgemeinerungen. In Reinform kann man dieses Phänomen in den USA beobachten, Stichwort Mauer, Stichwort Einreisestopp. Und genau in diesem Zusammenhang ist Van Rompuy eben wütend geworden, genau gesagt, als er feststellen musste, dass gewisse Politiker - auch in Belgien - Tendenz dazu hatten, die Politik des neuen US-Präsidenten Donald Trump zu relativieren. Das gilt etwa für die N-VA-Regierungsmitglieder Jambon und Francken, die ja vor "übertriebener Hysterie" gewarnt hatten.
Verrat der Intellektuellen
Dem liegt ein fataler Fehlschluss zu Grunde, analysiert Van Rompuy: Manche Leute haben dermaßen große Angst, ins linke Lager gesteckt zu werden, dass sie es nicht wagen, rechte oder rechtsextreme Ideen zu verurteilen. Und hier zieht Van Rompuy einen Vergleich, der in vielen Ohren ebenso abgedroschen wie überzogen wirkt: Wir dürfen die Fehler der 20er und 30er Jahre nicht wiederholen, mahnt Van Rompuy. Auch damals hat es Politiker und Beobachter gegeben, die sich bemühten, dem Faschismus positive Seiten abzugewinnen, die die Dinge zu relativieren suchten. In der Fachliteratur nennt man das den "Verrat der Intellektuellen". Und genau davor wolle er aus tiefster Überzeugung warnen. Historische Vergleiche hinken immer, räumt Herman Van Rompuy ein. Aber als Mahnung mag man sie dennoch durchgehen lassen.
Der ehemalige EU-Ratspräsident in ihm hat sich aber auch die Frage gestellt, was man tun kann, um den Ängsten der Menschen entgegenzuwirken. Hier müsse man eine schwierige Gleichung lösen, sagt Van Rompuy. Einerseits muss man feststellen, dass die Offenheit unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaften uns einen nie gekannten Wohlstand beschert haben. Auf der anderen Seite haben mehr und mehr Menschen den Eindruck, dass wir zu offen waren. Die Lösung sieht wohl so aus, sagt van Rompuy: "Wir, das heißt insbesondere die EU, wir müssen die Bürger beschützen, mehr, als das jetzt der Fall ist, schützen etwa vor Arbeitslosigkeit, vor sozialen Ungerechtigkeiten, vor Terrorismus - schützen, ohne an Offenheit einzubüßen."
Roger Pint - Archivbild: John Thys/BELGA