Vor genau 70 Jahren, am 26. September 1946, erschien die erste Ausgabe von "Tintin". Tintin ist natürlich zu aller erst der Name des berühmten Comic-Helden, den der belgische Zeichner und Autor Hergé erfunden hat.
Das erste Abenteuer des pfiffigen Reporters erscheint am 10. Januar 1929 in "Le Petit Vingtième", der Jugendbeilage der katholischen Zeitung "Le vingtième siècle". Die letzte Ausgabe der Zeitung erscheint am 9. Mai 1940 - mit dem Einmarsch der deutschen Truppen wird das Blatt eingestellt.
Hergé ist arbeitslos, will aber natürlich weiter die Abenteuer seines Comic-Helden veröffentlichen. Die Möglichkeit dazu gibt ihm die Zeitung Le Soir, die allerdings von 1940 bis 1945 unter der Kontrolle der deutschen Behörden steht. Deswegen wird Hergé nach dem Krieg der Kollaboration beschuldigt und mit einem Publikationsverbot belegt.
Hier kommt Raymond Leblanc ins Spiel. Leblanc war in der Resistance, wurde deswegen auch mehrfach ausgezeichnet. Ursprünglich war er Finanzbeamter, doch will er sich nach dem Krieg als Verleger versuchen. Die entsprechende Publikationserlaubnis hat er schon.
"Und dann traf ich Hergé", sagte Raymond Leblanc in einem RTBF-Interview von 1976. Er habe natürlich Hergé gekannt, sei ein eifriger Leser der Tim und Struppi-Geschichten gewesen. "Ich dachte, Hergé wäre schon ein reifer, älterer Herr. Bis ich feststellte, dass er ja noch jung und außerdem sympathisch war. Und dann haben wir zusammen die Zeitschrift "Tintin" gegründet."
Was Leblanc hier nicht sagt, und was er im Übrigen nie breitgetreten hat, das ist, dass er Hergé quasi wieder in den Sattel gehoben hat. Es war Raymond Leblanc, der mit seiner Aura des früheren Resistance-Kämpfers den ins Zwielicht geratenen Comic-Autoren de facto rehabilitierte. Ohne Leblanc und das Magazin Tintin hätte Hergé womöglich alles hingeschmissen.
Am 26. September 1946 erscheint also die erste Ausgabe von Tintin. Auf zwölf Seiten – und für bescheidende 3,50 Franken – gibt es den Auftakt des neuen Tim und Struppi-Abenteuers "Der Sonnentempel", aber auch unter anderem die ersten Zeichnungen der Serie Blake und Mortimer des ebenfalls belgischen Zeichners Edgar Pierre Jacobs. Neben Hergé und Jacobs gab es da nur noch Cuvelier und Laudy. Und das alles in drei bescheidenen Büros.
"Für verrückt erklärt"
Leblanc setzt gleich alles auf eine Karte: Die erste Ausgabe erscheint mit einer Startauflage von 60.000 Exemplaren in Belgien, davon 20.000 auf Niederländisch. Das nötige Geld hat er sich rechts und links bei Freunden und Verwandten geliehen. "Die haben mich für verrückt erklärt", sagte Leblanc 30 Jahre später. Aber die Rechnung geht auf: Alle Hefte werden verkauft.
Und dann geht es steil bergauf. Schon zwei Jahre später startet die französische Ausgabe. In den 60er und 70er Jahren werden wöchentlich rund 400.000 Hefte allein in Frankreich und Belgien gedruckt. Es gibt Tintin sogar auf Portugiesisch, Griechisch und Arabisch.
"Klar, ich hatte ja auch ein Zugpferd", sagte Leblanc. Eben Tintin. Bis zum Tod des Autors 1983 wurden alle Abenteuer von Tim und Struppi in Tintin vorveröffentlicht. Daneben machten unzählige Autoren bzw. Comicserien in Tintin ihre ersten Schritte, darunter Alix, Chick Bill, Michel Vaillant oder Thorgal, um nur die bekanntesten zu nennen. "Das trug mit dazu bei, dass Brüsseler zu einer Comic-Hochburg geworden ist", erklärte Leblanc nicht ohne Stolz.
Doch war das immer noch erst der Anfang. Raymond Leblanc war zeitweise so etwas wie der "Walt Disney" Europas. In den 50er Jahren entwickelte er Tim und Struppi-Merchandisingprodukte, danach gründet er das Studio Belvision, das bis heute Zeichentrickfilme produziert.
Ebenfalls bis heute thront auf dem Hauptgebäude seines Verlagshauses "Lombard" am Brüsseler Südbahnhof das Logo von Tim und Struppi, das sich dort oben seit 1958 um seine Achse dreht.
Raymond Leblanc, Kultverleger und Marketing-Genie, sollte seine Zeitschrift überleben. Er starb 2008 im Alter von 92 Jahren. Der Titel "Tintin" verschwand bereits 20 Jahre vorher im Jahr 1988. Das Nachfolgemagazin wurde 1993 endgültig eingestellt.
Roger Pint - Bild: Robert Vanden Brugge/Belga
Schöner Bericht von einem Experten, merci!