September 2010: Pressekonferenz in Brüssel. Am Tisch sitzt die Familie Atar, flankiert von ihrem Anwalt. Sie haben ein wichtiges Anliegen. Oussama Atar, der Sohn beziehungsweise Bruder, sitzt seit Jahren in einem irakischen Gefängnis. Ihm ist es gelungen, eine SMS an seine Familie zu schicken. Und der Inhalt ist besorgniserregend: "Mein Gesundheitszustand wird immer schlechter, seit Monaten verliere ich Blut. Ich werde immer dünner."
Anscheinend - so erfährt die Familie - leidet der damals 26-jährige Oussama unter Nierenkrebs. Deswegen lanciert die Familie Atar denn auch einen flammenden Appell, um Oussama nach Belgien zurück zu bringen. Später wird auf einer Demo die Forderung noch einmal lautstark wiederholt. Unterstützt wird die Familie Atar dabei von Politikern von PS, CDH und ECOLO. Auch Amnesty International schließt sich dem Hilferuf an.
Seinerzeit, 2010 also, wurde denn auch der damalige CD&V-Außenminister Steven Vanackere wegen seiner angeblich passiven Haltung in dieser Sache überall an den Pranger gestellt. Nicht nur, dass die Haftbedingungen unzumutbar seien, erst recht, wenn man Krebs hat. Oussama habe außerdem keinen gerechten Prozess bekommen, so die Kritik seiner Fürsprecher.
Es dauerte am Ende doch noch ziemlich genau zwei Jahre, bis Oussama wirklich von den irakischen Behörden auf freien Fuß gesetzt wurde. Am 18. September 2012 konnte er am Brussels Airport seine Familie wieder in die Arme schließen.
Nach Befragung freigelassen - und von der Terrorliste gestrichen
Empfangen wurde er dort aber auch schon von der Polizei, die Oussama Atar zum Verhör mitnahm. 14 Stunden lang wurde er von einer Brüsseler Untersuchungsrichterin ausgefragt. Es galt zu klären, inwieweit der Mann im Irak in illegale Aktivitäten verwickelt war, die dann zu seiner Inhaftierung geführt hatten. Laut unbestätigten Berichten soll er 2002 an der syrisch-irakischen Grenze mit Waffen aufgegriffen worden sein. Andere Quellen sprechen dagegen von einem "humanitären Konvoi".
Am Ende ließ ihn die Brüsseler Untersuchungsrichterin jedenfalls laufen. Und weil sich nichts Verwertbares gegen Oussama Atar finden ließ, wurde er auch von der Liste der Terrorverdächtigen gestrichen - danach hat sich seine Spur anscheinend verloren.
Familienbande und Kontakt zu IS-Führer
Der Name fällt anscheinend wieder direkt nach dem 22. März. Und das hat mit "Familienbanden" zu tun: Oussama Atar ist nämlich der Vetter von keinen geringeren als den Gebrüdern El Bakraoui, den beiden Selbstmordattentätern von Zaventem beziehungsweise Maelbeek. Einer seiner Brüder sitzt im übrigen auch wegen Terrorverdachts in U-Haft.
Und mehr noch: Inzwischen hat sich auch herausgestellt, dass Oussama Atar anscheinend 2005 in dem amerikanischen Foltergefängnis Abu Graib im Irak gesessen hat, und das anscheinend zusammen mit Abu Bakr al-Baghdadi, dem heutigen Chef der Terrororganisation IS.
Das hat Oussama Atar denn auch zum derzeitigen "Terrorverdächtigen Nummer eins" gemacht, wie es die VRT formulierte. Schon direkt nach dem 22. März gab es Hausdurchsuchungen, bei denen ganz klar er die Zielperson war. Seither steht er auch wieder auf der Liste der Terrorverdächtigen und auch die Polizeiaktion vom vergangenen Freitag galt offenbar ihm.
Die Französischen Behörden gehen laut Medienberichten jedenfalls davon aus, dass sich Oussama Atar in Europa aufhält, wahrscheinlich in Belgien, und dass er gefährlich ist. Dass sich so einer in Luft auflösen kann, und dass er noch dazu zeitweilig von der Liste der Terrorverdächtigen gestrichen werden kann, also das ist alles andere als normal, wetterte schon in der VRT der SP.A-Politiker und Bürgermeister von Vilvoorde, Hans Bonte. Und dass so etwas meistens in Brüssel passiere, also das zeige auch, wo die Achillesferse des Sicherheitsapparats angesiedelt sei.
Ähnliche Töne auch von der N-VA: "An so einem Mann muss man doch dranbleiben, und notfalls muss man auch eingreifen, bevor etwas passiert", sagte der N-VA-Fraktionschef Peter De Roover in der VRT. Sein Parteikollege Koen Metsu ging in einigen Zeitungen noch einen Schritt weiter: "Politiker haben sich vor den Karren eines Terroristen spannen lassen", wird Metsu zitiert.
Amnesty verteidigt sich
Und auch Amnesty International steht wegen der Unterstützung von Atar vor 6 Jahren am Pranger. "Zu Unrecht", sagt aber Amnesty-Direktor Wies De Graeve: "Wir haben lediglich gefordert, dass Atar Zugang zu vernünftiger medizinischer Versorgung bekommt."
Ob es wirklich belgischer Druck war, der zur Freilassung von Oussama Atar geführt hat, das ist noch nicht geklärt. Sein Anwalt behauptet, dass Atar von den zehn Jahren, zu denen er verurteilt wurde, mehr als neun abgesessen hat.
Ach ja: Nierenkrebs hatte er übrigens nicht, es war wohl nicht mehr als eine simple Entzündung.
Roger Pint - Illustrationsbild: Bruno Fahy (belga)