"Der Streik bei der SNCB geht wohl bis mindestens Montag weiter", schreiben La Libre Belgique und das GrenzEcho auf Seite eins. Het Laatste Nieuws ist noch pessimistischer: "Noch bis mindestens Mittwoch Behinderungen im Zugverkehr", so die Schlagzeile.
Nach den wallonischen und Brüsseler Haftanstalten droht sich nun auch der Sozialkonflikt bei der Nationalen Eisenbahngesellschaft SNCB festzufahren. Das Personal war am Mittwochabend spontan in den Ausstand getreten. Der Streik betrifft aber größtenteils den Süden des Landes. Die Direktion bleibt im Wesentlichen bei ihrer Haltung: Zwei Ruhetage sollen gestrichen werden. Das Ganze soll jetzt lediglich anders berechnet werden. Offen ist deshalb, ob die Gewerkschaftsbasis am Montag bei den geplanten Urabstimmungen für ein Ende des Streiks votieren wird oder nicht. Für den kommenden Dienstag allerdings haben die Gewerkschaften schon zu einem neuen Streik aufgerufen.
"Ça suffit!"
Die Streiks in den wallonischen und Brüsseler Haftanstalten dürften derweil voraussichtlich weiter gehen. Zumindest gibt es im Moment nicht sehr viel Zustimmung für den neuen Vorschlag von Justizminister Geens. Eine Folge steht auf Seite eins von Le Soir: "Geens lässt knapp 200 Häftlinge frei", schreibt das Blatt. Demnach wurde ihnen mit sofortiger Wirkung Hafturlaub gewährt, der gegebenenfalls verlängert werden kann. Der Justizminister begründet die Maßnahme mit den humanitären Problemen in den Haftanstalten. Auf der anderen Seite erhöht er aber auch den Druck auf die Gefängniswärter: "Die Streikenden sollen für den Monat Mai nicht bezahlt werden", schreibt Le Soir. Die Gewerkschaften reagierten empört und warnten, dass sich die Haltung der Streikenden dadurch nur noch weiter radikalisieren werde.
"Ça suffit!", titelt aber – auf Französisch – die flämische Tageszeitung De Standaard. "Es reicht!". Diese Worte stammen von Premierminister Charles Michel, der offensichtlich jetzt mit der Faust auf dem Tisch schlägt. Irgendeiner musste in diesem Land endlich mal mutige Entscheidungen treffen, sagt der Premier. Er verstehe zwar die Besorgnis der Bürger, die Proteste gegen die Politik seiner Regierung seien dennoch auch politisch gesteuert.
Wer zieht die Strippen?
Ähnlich äußert sich Michels Parteikollege, MR-Chef Olivier Chastel, in L'Avenir. Ein Teil der linken Opposition stachele zu den Protesten an, und damit meint Chastel in erster Linie die kommunistische PTB, und die PS versuche ständig, auf der Protestwelle zu surfen. Wer zieht die Strippen? Auf diese Frage gibt es heute in den Zeitungen keine klare Antwort. Offensichtlich ist, dass die Gewerkschaftsverantwortlichen oft genug von ihren Mitgliedern rechtsüberholt werden. Sowohl in den Gefängnissen als auch bei der SNCB gingen die Streiks von der Basis aus.
Het Nieuwsblad präsentiert dennoch die "vier wallonischen Hauptakteure der Protestwelle". Darunter ist zu allererst PTB-Sprecher Raoul Hedebouw, der "Knuddelbär, der die Gewerkschaften zum Rhythmus der Kommunisten marschieren lässt", wie es das Blatt formuliert. Daneben porträtiert das Blatt drei Gewerkschaftsführer, unter anderem den neuen Generalsekretär der sozialistischen CGSP Patrick Lebrun. Lebrun hatte unverhohlen die Order ausgegeben, die Regierung mit allen Mitteln zu stürzen.
Gewerkschaftlicher Harakiri
"Für wen halten diese Leute sich eigentlich?", fragt sich das flämische Massenblatt Het Laatste Nieuws in einem wütenden Kommentar. Wenn diese Regierung auch im frankophonen Landesteil keine Mehrheit hat, so ist sie doch demokratisch legitimiert. Es ist nicht die Rolle der Gewerkschaften, eine Regierung gegebenenfalls zu stürzen. Die roten Bonzen schwelgen da offensichtlich in Allmachtsphantasien. Damit sind sie noch weltfremder als die Politiker, die sie bekämpfen wollen.
Die Gewerkschaftsverantwortlichen überschätzen sich, meint auch De Standaard. Mehr noch: Sie sind dabei, ihr Blatt gehörig zu überreizen. Durch die Ankündigung, die Regierung stürzen zu wollen, liefern sie dem Premierminister sozusagen seinen Thatcher-Moment. Wie seinerzeit die Eiserne Lady in Großbritannien kann er den Gewerkschaften die Stirn bieten, zumal er weiß, dass sich vor allem im Norden des Landes das Verständnis für eine nicht endend wollende Streikwelle doch spürbar in Grenzen hält.
Auch von den frankophonen Leitartikeln ernten die Gewerkschaften Kopfschütteln. "Ist die CGSP verrückt geworden?", fragt sich sinngemäß L'Avenir. Die sozialistische Gewerkschaft will also die Regierung stürzen? Wie will man der Welt denn jetzt noch weismachen, dass die Streiks nicht politisch gesteuert sind? Und hat man vielleicht auch mal über die Konsequenzen nachgedacht? Die Regierung stürzen? Und dann? Gibt es dann Neuwahlen? Wird dann das Land vielleicht gespalten? Die CGSP begeht einen schrecklichen Fehler. Mehr noch: gewerkschaftlichen Harakiri.
Chaos und kein Sieger
Belgien gibt einmal mehr ein desaströses Bild ab, wettert Le Soir. Das nackte Chaos. Seit einem Monat streiken die Gefängniswärter, jetzt sechs Tage Streik bei der Bahn, ab Dienstag Streik im öffentlichen Dienst. Das alles in einem zerrissenen Land, da sich die Proteste im Wesentlichen auf den Süden beschränken. Und mit einem Premierminister, der im Moment ohnmächtig erscheint. Da kann einem schwindlig werden.
In dieser Auseinandersetzung kann es jedenfalls keinen Sieger geben, glaubt Het Nieuwsblad. Das Blatt untermauert diese These sogar mit einer neuen Umfrage. Das Resultat in Form einer Schlagzeile: "Die Flamen urteilen streng über die Streikenden, aber auch über Charles Michel". Und in der Tat: Das Ergebnis ist schon paradox: Sechs von zehn Befragten sind der Ansicht, dass die Regierung nicht genug auf die Sorgen und Nöte der Gewerkschaften hört. Sieben von zehn sind aber der Meinung, dass Streiks auch nichts bringen.
"Ist Belgien ein failed state, also ein gescheiterter Staat?", fragt sich seinerseits immer noch De Morgen. Darüber hat das Blatt mit zwölf Parteivorsitzenden gesprochen. PS-Chef Di Rupo sagt: Die Frankophonen fühlen sich von dieser Regierung nicht vertreten. N-VA-Chef Bart De Wever sagt: Dieses Land ist schlecht gestrickt und das kostet zu viel.
Bpost – Ein Vorbild?
Viele Zeitungen schließlich beschäftigen sich mit der Zukunft der Post. Bpost plant offenbar die Übernahme des niederländischen Konkurrenten PostNL. "Das kann sich als gutes Geschäft erweisen", glaubt Het Laatste Nieuws. Le Soir warnt indes: Nach einer Fusion mit den Holländern wäre Bpost kein Staatsbetrieb mehr. In der Tat wäre der Staat dann nicht mehr Mehrheitsaktionär.
Das wäre aber nicht schlimm, glaubt La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Erst recht nach der Fusion mit PostNL wäre das Unternehmen stark genug, um am Markt bestehen zu können. Davon abgesehen: Bpost ist ein Musterbeispiel dafür, dass man einen Staatsbetrieb, und sei er noch so angestaubt, tatsächlich auf Vordermann bringen kann. Grundvoraussetzung ist eine Geschäftsführung, die Mut und Vision mitbringt, wie eben seinerzeit Johnny Thijs. Und man braucht auch Gewerkschaften, die offen für Veränderungen sind. So mancher sollte heute daraus seine Lehren ziehen.
Roger Pint - Bild: Thierry Roge/Belga