"Die Moral der Belgier ist im Keller", titelt Le Soir. Das Blatt veröffentlicht heute Teil zwei seines Politbarometers, das zusammen mit Het Laatste Nieuws und den Fernsehsendern RTL-TVI und VTM durchgeführt wurde. Demnach blicken viele Belgier also eher pessimistisch auf das neue Jahr. Nur ein Fünftel der Befragten rechnet mit einem Anstieg ihrer Kaufkraft. Mehr als acht von zehn glauben nicht an eine positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Zudem sind drei Viertel der Menschen der Ansicht, dass es in diesem Jahr auf belgischem Boden einen Anschlag geben wird.
Het Laatste Nieuws hebt auf seiner Titelseite einen anderen Aspekt hervor: "Acht von zehn Belgiern befürchten, dass die Flüchtlinge unsere Lebensweise bedrohen". 96 Prozent der Bürger sind der Ansicht, dass Belgien jetzt genug Asylbewerber aufgenommen hat.
Diese Zahlen lassen ein Fazit zu, meint Le Soir in seinem Leitartikel: Vernünftige Argumente greifen im Moment nicht. Der Hauptgrund dafür ist wohl, dass die europäischen Staaten sich gerade nicht auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik einigen können. Dabei sollte doch jeder wissen, dass nur ein europäischer Ansatz und damit verbunden EU-interne Solidarität, die Lösung bringen könnten.
Profilierungssucht gießt Öl ins Feuer
Der Belgier hat Angst, kann auch Het Laatste Nieuws nur feststellen. Angst vor Terrorismus, Angst vor den möglichen Auswirkungen der Flüchtlingskrise. In einem derart aufgeheizten Klima hilft es aber nicht wirklich, wenn Politiker den erstbesten vermeintlichen Zwischenfall missbrauchen, um sich auf Kosten der Flüchtlinge zu profilieren. Beispiel Koksijde: Wer jemanden gleich einen "Asylgrapscher" nennt, bevor die Tat überhaupt bewiesen ist, der schüttet allenfalls Öl ins Feuer. Dabei kann nur ein kühler Kopf uns retten.
Apropos Koksijde: Der vermeintliche Übergriff eines irakischen Asylbewerbers auf ein junges Mädchen im Schwimmbad des Küstenortes sorgt weiterhin für Unruhe. Auch im westflämischen Eeklo gab es eine Klage wegen mutmaßlicher sexueller Belästigung im örtlichen Schwimmbad. Einige Bäder in der Region zogen jetzt Konsequenzen, wie Het Laatste Nieuws berichtet, und das bis hin zu gesonderten Bahnen, die ausdrücklich Flüchtlingen vorbehalten sind. Hier lauert eindeutig Massenhysterie, meint das Blatt.
Der Vater des Mädchens, das in Koksijde angeblich unsittlich berührt wurde, versteht derweil offensichtlich gar nichts mehr. "Das ganze Theater ist etwas übertrieben", sagt der Mann in Het Nieuwsblad. Seine Tochter sei demnach "überhaupt nicht traumatisiert".
Dänemark weckt dunkle Erinnerungen
"Dänemark bittet Flüchtlinge zur Kasse", titelt ihrerseits La Libre Belgique. Das dänische Parlament hat ja am Dienstag die umstrittene Verschärfung der Asylgesetzgebung verabschiedet. Demnach hat die Polizei jetzt das Recht, Wertgegenstände und Geld, die einen gewissen Wert übersteigen, zu beschlagnahmen. Damit sollen sich die Flüchtlinge an den Kosten für ihre Unterbringung beteiligen.
Das Ganze weckt düstere Erinnerungen, sind sich viele Leitartikler einig. Und Louis Michel, der genau aus diesem Grund im EU-Parlament einen regelrechten Wutanfall bekam, hat vollkommen Recht, meint Le Soir. Man stelle sich vor: Die Menschen, die vor mehr als 70 Jahren vor den Nazis flüchteten, hätten in Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden erstmal all ihre Habseligkeiten abgenommen bekommen. Wie es Michel schon richtig sagte: Es gibt keinen guten Populismus, der also moralisch akzeptabel wäre.
La Libre Belgique findet die dänische Maßnahme unerträglich. Zwar hat Dänemark im Vergleich zur Gesamtbevölkerung den wohl größten Anteil an Flüchtlingen aufgenommen. Das aber offensichtlich auf Kosten der Menschlichkeit und Empathie. Hier zieht man unweigerlich den Vergleich mit den Enteignungen der Juden durch die Nazis.
Auch L'Avenir fühlt sich an diese düsteren Zeiten erinnert. Das Blatt warnt aber davor, den Stab über Dänemark zu brechen. Man muss sich zumindest die Frage stellen, ob die dänische Maßnahme nicht einfach nur eine Reaktion ist auf die Unfähigkeit der europäischen Staaten, eine gemeinsame Lösung zu finden. Die Dänen fühlen sich, wohl nicht ganz zu Unrecht, in die Enge getrieben.
Tunnelblick
Die Brüsseler Bröckeltunnels sorgen auch heute weiter für wütende Kommentare. De Morgen und Het Nieuwsblad bescheinigen den Brüsseler Regionalverantwortlichen gleichermaßen einen "Tunnelblick". Het Nieuwsblad bringt die oft gehörte flämische Kritik an der politischen Zerstückelung der Hauptstadt auf den Punkt: Brüssel hat 25 Tunnels, aber nur 19 Mobilitätsschöffen. Da fehlen ja noch sechs. Beide Blätter jedenfalls vermissen auch bei derzeitigem Krisenmanagement noch schmerzlich ein Gesamtkonzept, das die Verkehrssituation in der Hauptstadt endlich einmal grundlegend hinterfragen würde.
Das Brüsseler Tunnelfiasko ist ja nur die letzte in einer Serie von peinlichen Geschichten die Hauptstadt betreffend, wie einige Zeitungen bemerken. Premierminister Michel hat es sich denn auch zur Aufgabe gemacht, das Belgienbild im Ausland zurechtzurücken. In den nächsten Monaten ist eine Image-Tournee geplant. Die Botschaft fasst Het Belang van Limburg wie folgt zusammen: "Das hier ist nicht Belgistan. Nein: Dieses Land funktioniert!" Allerdings, so schränkt die Zeitung ein, wir sollten doch endlich zugeben, dass eben nicht alles rund läuft: Molenbeek, kaputte Kernkraftwerke, geschlossene Tunnels - kein Wunder, dass man uns schief anguckt.
Auch für La Dernière Heure wäre Einsicht der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung. Es reicht nicht, am Ende wieder einen Politiker oder einen selbsternannten Experten vor eine Kamera zu stellen, der die Probleme dann wieder relativiert oder ganz aus der Welt redet. Statt die Krankheit zu behandeln, haben die Belgier viel zu oft eigentlich nur das Fieberthermometer weggeworfen.
Milliardengewinne wegen Steuerdeals unversteuert geblieben
"Zwei Milliarden Gewinn unversteuert", schreibt De Standaard heute auf Seite eins. Das Blatt hat die Liste der Betriebe einsehen können, die Steuerdeals mit dem belgischen Staat abgeschlossen haben. Also genau die Regelungen, die jetzt von der EU-Kommission für illegal erklärt wurden. Es geht um 36 Firmen, die unterm Strich also insgesamt zwei Milliarden Euro an Gewinn nicht versteuern mussten.
Brüsseler Schwurgerichtsvorsitzende doch nicht überfallen?
Schließlich noch eine eher befremdliche Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Brüsseler Schwurgerichtsvorsitzende Karin Gérard. Die war vor einigen Wochen nach eigenen Angaben in Brüssel überfallen und verletzt worden. Die Justiz leitete Ermittlungen ein. Und die ersten Ergebnisse sind offensichtlich der Zeitung La Dernière Heure zu Ohren gekommen. Erstaunliches Fazit des Blatts: "Karin Gérard hat den Überfall erfunden". Anscheinend war die Frau demnach lediglich gestürzt...
mitt/rs - Bild: Nicolas Maeterlinck/BELGA