"Die Roten Teufel haben uns Angst gemacht", bemerkt L'Avenir. In einer von belgischer Seite erschreckend schwachen ersten Halbzeit war Algerien zunächst mit 1:0 in Führung gegangen. In der zweiten Halbzeit konnte dann aber Marouane Fellaini ausgleichen, bevor Dries Mertens den 2:1-Siegtreffer erzielte. "Die Erlösung", titelt denn auch La Libre Belgique.
"Uff!": die wohl häufigste Schlagzeile auf den Titelseiten. "Uff!", titeln L'Avenir und Het Nieuwsblad; "Uff!", schreiben auch Gazet van Antwerpen und Het Belang van Limburg in Blockbuchstaben auf Seite eins.
"70 Minuten Bibbern und dann der Wahnsinn", fassen Le Soir und Het Nieuwsblad die Achterbahn der Gefühle zusammen. "Umwerfend", schreibt La Dernière Heure. Die Zeitung bringt eine Titelseite wie eine Spielkarte: Oben ist Marouane Fellaini - unten, seitenverkehrt, ist der jubelnde Dries Mertens. Fellaini und Mertens waren beide eingewechselt worden. "Mit Dank an die Bank", titelt denn auch De Morgen.
Stress pur
Für Het Laatste Nieuws fasst ein Wort die gesamte Partie zusammen: "Stress". Stress war wohl die Ursache für das zunächst lethargische Auftreten der Roten Teufel. Und das wiederum sorgte für Stress bei den Fans. Sogar der König hat mitgefiebert. König Philippe hat sich das Spiel in den Räumlichkeiten des Unternehmerverbandes FEB angeschaut und beim 2:1 brachen auch bei ihm alle Dämme. "Wenn selbst Philippe sich gehen lässt, dann wissen wir, dass es ein Thriller war", schreibt Het Laatste Nieuws. "Quatsch, Thriller, es war der Horror", meint das Blatt sogar.
Belgien erlebt im Moment in allen Belangen ein Wechselbad der Gefühle, bemerkt L'Echo in seinem Leitartikel. Ganz Belgien hat 90 Minuten lang den Atem angehalten und auf den Erfolg von elf jungen Männern in kurzen Hosen gehofft. Es ist eines der seltenen Male, wo der Norden und der Süden im Gleichklang vibrieren. Und dabei treten sozusagen all unsere Dämonen gleichzeitig zu Tage: Defätismus, krankhafte Bescheidenheit, die Angst zu gewinnen oder zu den Favoriten zu zählen. Zugleich liegt ausgerechnet während der Fußballweltmeisterschaft das Schicksal des Landes in den Händen eines Mannes, der mit den Roten Teufeln nichts anfangen kann. Da kann man nur sagen: Lasst uns den gestrigen Erfolg genießen.
"Torschütze: Bart De Wever"
Belgien ist nicht umsonst das Mutterland des Surrealismus, meint augenzwinkernd De Morgen. Im Augenblick wird man quasi an jeder Ecke mit scheinbaren Widersprüchen konfrontiert, die es wirklich nur hier gibt. Beispiel: Ein Auto, das das Länderkennzeichen "VL" für Flandern trägt, zugleich aber Überzüge für die Außenspiegel in den Farben schwarz-gelb-rot. Anderes Beispiel: Eine Fünfjährige wird im Vorfeld des Spiels gefragt, wer denn das erste belgische Tor schießen wird. Die Antwort: "Bart De Wever". Apropos De Wever: Der ist gerade dabei, sich festzufahren. Da kann man getrost noch ein bisschen Fußball gucken.
Wie Het Laatste Nieuws berichtet, hat eben dieser Bart De Wever gestern übrigens seinen N- VA-Kollegen ein Bein gestellt, als er eine Sitzung des Parteivorstandes ausgerechnet um 18:00 Uhr ansetzte. Er wollte damit wohl klarmachen, dass es Wichtigeres gibt, als die sportlichen Leistungen der Roten Teufel. Klar hat er da nicht ganz Unrecht, meint das Blatt. Doch muss man zugeben, dass die WM uns schon vor Augen führt, wie relativ alles ist. Es ist nicht alles so düster, wie es De Wever immer darstellt, die ewige flämische Selbstkasteiung ist nicht nötig. Man muss zwar schon mal den Mut haben, zu sagen, dass es fünf vor zwölf ist. Es darf aber auch schon mal fünf vor sechs sein.
Auf in die dritte Halbzeit
Auch für Bart De Wever war gestern in der Tat ein wichtiger Tag. Zum dritten Mal musste er König Philippe über die Fortschritte seiner Sondierungsmission Bericht erstatten. Und zum dritten Mal bat er um eine Verlängerung seines Auftrags, die ihm das Staatsoberhaupt auch gewährt hat. "De Wever ist dabei, sich festzufahren", analysiert La Libre Belgique. De Wever versucht nach wie vor, die CDH für die von ihm angepeilte Mitte-Rechts-Koalition zu gewinnen.
Die schlechte Neuigkeit ist, dass ihm das noch nicht gelungen ist. Die gute Neuigkeit ist, dass noch niemand die Türe krachend zugeschlagen hat, meint Gazet van Antwerpen. Nur muss man festhalten, dass das Misstrauen zwischen den Parteien nach wie vor enorm groß ist. Die CDH misstraut der N- VA, die MR bezichtigt die CDH des Verrats. Da wartet noch viel Arbeit auf De Wever.
Und er muss es alleine machen, konstatiert Het Nieuwsblad. Er ist nun mal der Wahlgewinner auf flämischer Seite. Die Zeiten, in denen die N- VA im Windschatten des Kartellpartners CD&V den Daumen heben oder senken konnte, die sind vorbei. Und die CD&V hat aus nachvollziehbaren Gründen keine Lust und auch kein Interesse daran, ihre eigenen Staatsmänner in die Arena zu schicken, um De Wevers Traum zu verwirklichen.
Kurzsichtige Taliban
Einige Zeitungen beschäftigen sich auch heute mit dem Bericht der Expertengruppe, die sich mit der Zukunft des Rentensystems auseinandergesetzt hat. Es handelt sich dabei zwar "nur" um einen Expertenbericht; die politisch Verantwortlichen und auch die Sozialpartner wären aber gut beraten, ihn nicht mal eben so vom Tisch zu fegen, meint La Libre Belgique. Dieses Land muss den Realitäten endlich ins Auge sehen: Das Rentensystem droht, gegen die Wand zu fahren. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die ohnehin schon niedrigen Pensionen werden gesenkt. Oder: Wir alle müssen länger arbeiten.
Le Soir übt in diesem Zusammenhang ungewöhnlich scharfe Kritik an der sozialistischen Gewerkschaft FGTB und auch an der PS. Beide hatten den Expertenbericht mehr oder weniger postwendend abgeschossen. Wie kann man nur so kurzsichtig sein?, wettert das Blatt. Wenn Gewerkschaften es Intellektuellen verbieten wollen, nachzudenken, dann ist das schlimmster Fundamentalismus nach dem Vorbild der Taliban. Man muss ja nicht am Ende mit allem einverstanden sein, man darf aber auch nicht die Vorschläge quasi ungesehen beerdigen. Denn es ist eine Tatsache: Wir müssen schnell handeln, und es wird nicht einfach.
Bild: Philippe Desmazes/AFP