"Die Gewerkschaften wollen drei Tage streiken", titelt De Tijd. "Dreitägiger Streik konfrontiert De Wever mit einer zweiten Protestwelle", so die Schlagzeile von De Standaard. "Ein historischer Streik legt maximalen Druck auf die Regierung De Wever", schreibt L'Echo auf Seite eins.
Die Gewerkschaften haben für Ende November einen dreitägigen Streik-Marathon angekündigt. Höhepunkt soll ein Generalstreik am 26. November sein. Sie wollen damit gegen den Sozialabbau protestieren, insbesondere gegen die Rentenreform. "Eine solche Streikwelle gab es seit 50 Jahren nicht mehr", bemerkt sinngemäß La Libre Belgique auf Seite eins.
Bärendienst für die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften
Viele Leitartikler gehen mit der Ankündigung hart ins Gericht. "Sozialer Protest verkommt inzwischen zu einem Ritual, bei dem die Form wichtiger ist als der Inhalt", beklagt etwa De Standaard. Die Gewerkschaften erwecken den Eindruck, dass sie am Ende immer einen Grund finden, um zum Streik aufzurufen. Denn mal ehrlich: Die wirklich Heiligen Kühe sind inzwischen vom Tisch. Premier De Wever hat ja einen möglichen Indexsprung oder auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer offenbar zurückgezogen. Wenn sich das bewahrheitet, dann wird die nötige Sanierung am Ende auf das strikte Minimum reduziert. Darüber hinaus wird die große Masse der Erwerbstätigen längst nicht so hart angepackt, wie es die Gewerkschaften darstellen. Am Ende reduziert sich der Protest auf die Rentenreform, wobei doch niemand den demographischen Druck auf die Finanzierung der Pensionen ernsthaft bestreiten kann. Klar: In einigen Punkten haben die Gewerkschaften Recht, insbesondere etwa mit ihrer Kritik am Wildwuchs der Management-Gesellschaften, die ja zur Steuervermeidung missbraucht werden. Das alles rechtfertigt aber nicht eine derartige Streikwelle. Die Gewerkschaften erweisen damit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit einen Bärendienst.
Ebenso spektakulär wie katastrophal
"Der Streikmarathon ist einfach nur dumm", giftet auch Het Nieuwsblad. Die Gewerkschaften werfen der Politik vor, den Bezug zur Realität verloren zu haben. Mag sein, aber dasselbe gilt auch für sie selbst. Eigentlich beweisen die Gewerkschaften nur, dass sie in ihrer eigenen nostalgischen Welt leben. Angefangen damit, dass die Kundgebung vom Dienstag vergangener Woche gar nicht so beeindruckend war, wie es die Arbeitnehmerorganisationen darstellen. Weil sie sich selbst belügen, halten sich die Gewerkschaften plötzlich wieder für die Sprecher der gesamten Arbeiterschaft. Dabei sehen sich viele Beschäftigte eher als das Opfer einer kleinen Gruppe, die in erster Linie für ihre eigenen Kapelle predigt. Ja: Gewerkschaften sind und bleiben nötig als eine Form von "sozialem Gewissen". Aber es ist einfach nur schade, dass sie all ihre Energie verschwenden an Streiks, die uns keinen Schritt weiterbringen und die allenfalls dazu dienen, dass die Gewerkschaften ihre Existenzberechtigung noch einmal auf rückwärtsgewandte Art beweisen können.
L'Echo warnt seinerseits vor einer zunehmenden Polarisierung. Die Gewerkschaften haben bei ihrer Kundgebung neues Selbstbewusstsein getankt und wollen den Schwung jetzt offensichtlich mitnehmen. Und sie legen jetzt gleich drei Schippen drauf und rufen zu einer spektakulären Streikwelle auf. Spektakulär, aber leider auch katastrophal, denn die belgischen Unternehmen stehen ohnehin schon unter massivem Druck. Katastrophal ist der Aufruf aber auch mit Blick auf das allgemeine Klima. Denn mit ihrer Radikalität vergrößern die Gewerkschaften noch den Graben zwischen der Politik und der Bevölkerung. Dabei muss doch jedem klar sein, dass es ohne Reformen nicht geht. Die Gewerkschaften legen es auf ein Kräftemessen mit der Regierung an. Dabei kann es aber keinen Gewinner geben und ganz bestimmt nicht das Land.
Wo sind die hehren Ambitionen geblieben?
Währenddessen ringt die Föderalregierung weiter um ihren Haushalt. Zuletzt sah es so aus, als habe Premierminister Bart De Wever seine Sparziele heruntergeschraubt. "Plötzlich sucht De Wever nur noch sechs Milliarden", bemerken etwa Gazet Van Antwerpen und Het Nieuwsblad auf Seite eins.
"Wo sind die hehren Ambitionen geblieben?", fragt sich anklagend Het Laatste Nieuws. Will sich der selbsternannte Chefsanierer Bart De Wever am Ende mit Sparmaßnahmen begnügen, von denen jeder weiß, dass sie nicht reichen werden? Und manchmal muss man sich echt an den Kopf fassen. Die von De Wever vorgeschlagene Mehrwertsteuererhöhung hätte laut Berechnungen zur Folge gehabt, dass der Preis für einen Durchschnitts-Einkaufswagen um 69 Cent steigt. Gibt es bei Vooruit oder der MR wirklich niemanden, der den Menschen das vernünftig verkaufen kann? Ja! Diese Sanierung wird die große Masse treffen. Untätigkeit wäre aber in jedem Fall noch schlimmer.
Genug gewartet!
"Die Regierung legt die Latte niedriger, die Gewerkschaften blasen zum Großangriff: Beides geht in die radikal falsche Richtung", giftet auch De Tijd in ihrem Kommentar. Mit jeder Frist, die verstreicht, verwässert die Sanierungsoperation der Regierung. Wenn es am Ende tatsächlich nur noch um sechs Milliarden geht, dann wäre das äußerst beunruhigend. Denn das würde bedeuten, dass fünf Parteien, die allesamt ein klares Mandat vom Wähler bekommen haben, trotz allem nicht dazu im Stande sind, das zu tun, was getan werden muss. Und ausgerechnet jetzt erhöhen die Gewerkschaften noch einmal extrem den Druck, indem sie zu einem fast beispiellosen Streik aufrufen. Damit beweisen sie einmal mehr, dass sie buchstäblich – koste es, was es wolle – am Status quo festhalten. Besonders tragisch: Der Protest richtet sich gegen Maßnahmen, die am Ende nicht einmal reichen könnten. Aber selbst die Gefahr, dass die belgischen Zinsen außer Kontrolle geraten könnten, scheinen die Gewerkschaften zu negieren. Die Folgen für eben die Menschen, die die Gewerkschaften doch angeblich verteidigen wollen, wären in einem solchen Fall noch ungleich brutaler.
"Dabei reicht doch ein Blick in die Geschichte", empfiehlt Gazet Van Antwerpen. Wilfried Martens und Jean-Luc Dehaene haben bewiesen, dass Politiker die Sparmaßnahmen konsequent durchziehen und diese auch zu rechtfertigen wissen, am Ende an der Wahlurne sogar noch belohnt werden. Jetzt muss jedenfalls Schluss sein mit den Diskussionen. Jeder hat seinen Punkt gemacht. Können wir jetzt also bitte mit der Sanierung beginnen?
Roger Pint