"Was ist los in Frankreich?", fragt sich sinngemäß De Morgen auf Seite eins. "Ist es denkbar, dass Macron seine Amtszeit nicht beendet?", so die Schlagzeile von La Libre Belgique.
Frankreich steht einmal mehr vor einem politischen Scherbenhaufen. Der gerade erst eingesetzte Premierminister Sébastien Lecornu hat gleich wieder seinen Rücktritt angekündigt. Auch er findet keine Mehrheit im Parlament. Präsident Emmanuel Macron hat den Rücktritt aber noch nicht angenommen und seinem Regierungschef noch eine letzte Frist von 48 Stunden gegeben. "Kann Lecornu das Unmögliche doch noch möglich machen?", fragt sich Le Soir auf Seite eins. Inzwischen wächst jedenfalls der Druck auf Präsident Macron. "Macron hat alle seine Karten ausgespielt", glaubt De Morgen.
Ein belgischer Kompromiss für Frankreich?
In Frankreich wäre man vielleicht gut beraten, einmal ins nördliche Nachbarland zu schauen, empfiehlt L'Avenir in seinem Leitartikel. In der Assemblée Nationale stehen sich weiter drei mehr oder weniger gleich große Blöcke gegenüber, die allesamt unversöhnlich und eisern an ihren jeweiligen Positionen festhalten. Die gute alte Bipolarität gehört der Vergangenheit an, niemand verfügt über eine absolute Mehrheit. Und an dieser Situation beißt sich ein Premierminister nach dem anderen die Zähne aus. Der letzte im Bunde, Sébastien Lecornu, hat die Brocken hingeschmissen, bevor er zum Schafott gehen musste. Da hilft eigentlich nur noch der vielgerühmte belgische Kompromiss: Eigene Interessen zurückstellen im Sinne des Allgemeinwohls. Davon sind wir allerdings in Frankreich noch weit entfernt, was beim Durchschnittsbürger einen doch bitteren Nachgeschmack hinterlässt.
Der Föderalstaat steht finanziell in Unterhose da
Innenpolitisch beschäftigen sich viele Zeitungen mit den Aussagen von Premierminister Bart De Wever, der gestern zum Beginn des neuen akademischen Jahres eine Gastvorlesung vor Studenten der Uni Gent gehalten hatte. Dabei hatte De Wever ein doch düsteres Bild der aktuellen Situation gezeichnet.
Wenn es vielleicht auch inhaltlich nicht falsch war, so war das Ganze doch zu negativ, findet Het Belang van Limburg. Die meisten Politiker sind bemüht, jungen Menschen eine doch hoffnungsvolle Botschaft mit auf den Weg zu geben, De Wever hingegen beherrscht wie kein Zweiter die Kunst des Deprimierens. Klar, die Realität ist, wie sie ist: Belgien steht vor einem gigantischen Haushaltsloch. Und es stimmt natürlich: So kann es nicht weitergehen, ansonsten kollabiert unser Sozialstaat.
Kleine Klammer dazu: Dass der Föderalstaat finanziell gesehen in der Unterhose dasteht, ist auch eine Folge der Staatsreformen, die doch in den Augen der N-VA niemals weit genug gingen. Ironie des Schicksals also, dass jetzt ausgerechnet ein flämischer Nationalist den Laden retten muss. Dennoch: Man kann sich nicht darauf beschränken, den Menschen immer nur zu erklären, wie dramatisch die Situation ist, und dass jetzt tiefgreifende Einschnitte nötig sind. Man muss auch Perspektiven aufzeigen, Hoffnung vermitteln, konkrete Ziele ausgeben. Das hat De Wever in Gent offensichtlich vergessen.
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich. Der Premierminister hat die Situation mit Sicherheit treffend beschrieben und auch den Reformbedarf nachvollziehbar dargelegt. Es war eine starke Bestandsaufnahme, nur leider hat De Wever da einige nicht unwichtige Einzelheiten einfach ausgeblendet: In seiner ansonsten doch lupenreinen Analyse fehlte zum Beispiel die Feststellung, dass einige der schon beschlossenen Reformen vor allem symbolischer Natur sind. Bei anderen werden die Lasten lediglich verlagert, etwa, indem man Langzeitarbeitslose künftig einfach zu den Sozialhilfezentren schickt.
Das Schlimmste ist aber weiter die offensichtliche Unausgewogenheit: Der Wähler wäre ja vielleicht noch bereit, schmerzhafte Einschnitte hinzunehmen, wenn sie denn nötig sind. Das allerdings nur, wenn er das Gefühl hat, dass die Lasten gerecht verteilt sind. Genau diesen Eindruck hat er aber gerade nicht, weil man die wirklich Reichen nach wie vor in Ruhe lässt.
Sinneswandel bei De Wever
Auch De Morgen kritisiert die Einschätzungen von De Wever. Das gilt vor allem in Bezug auf die Langzeitkranken. Die Diagnose ist – so hart sie auch klingen mag – noch durchaus korrekt: In Belgien gibt es zu viele Langzeitkranke, und so kann es nicht weitergehen. Bei den Therapien, die ihm vorschweben, kann man aber seine Zweifel haben. Viele der Langzeitkranken sind nämlich – de facto – in der Invalidität geparkt worden. Aus den verschiedensten Gründen.
Und genau diese Gruppe der meist über 50-Jährigen will man jetzt also wieder reaktivieren. Zu glauben, dass es reicht, diesen Menschen die Sozialleistungen zu kürzen, um sie wieder in die Arbeitswelt zu integrieren, das ist aber eine Illusion. Denn, um es einmal krass zu sagen: Der Arbeitsmarkt wartet nicht auf diese Menschen. Es besteht also die große Gefahr, dass man diese Leute schlichtweg in die Armut treibt.
Bei alledem muss man aber einen Sinneswandel bei De Wever hervorheben, analysiert Het Laatste Nieuws. Der Premier hat sich vor den Studenten in Gent nämlich als überzeugter Europäer gezeigt. Das ist neu. Offiziell ist die N-VA nämlich immer noch "eurorealistisch", eine blumige Bezeichnung für "europaskeptisch". Nicht umsonst ist die N-VA im EU-Parlament Teil der ECR-Fraktion, in der sich unter anderem auch diverse rechtsextreme Parteien tummeln.
Und doch ist der Premier inzwischen davon überzeugt, dass die belgischen Probleme nur auf der EU-Ebene gelöst werden können. Selbst die Erweiterung der EU-Zuständigkeiten ist für ihn kein Tabu mehr. Das untergräbt also auch die bisherige "konföderale" Analyse der N-VA, wonach nur die Spaltung des Landes die Lösung sein kann. Das Amt des föderalen Premierministers hat De Wever also durchaus verändert.
Roger Pint