"Conner ist jetzt aus dem Spiel, mindestens zeitweise, vielleicht sogar endgültig", schreibt De Standaard auf Seite eins. "Als Conner Rousseau mich unter vier Augen sprechen wollte, da wusste ich, was folgen würde", notiert Het Nieuwsblad. Beide Schlagzeilen sind Zitate der neuen Vooruit-Vorsitzenden Melissa Depraetere. Die 31-Jährige übernahm am Samstag die Nachfolge von Conner Rousseau. Der war am Abend zuvor zurückgetreten, nachdem er wegen rassistischer und sexistischer Aussagen ins Kreuzfeuer geraten war.
"Die flämischen Sozialisten stehen vor einem Scherbenhaufen", schreibt denn auch das GrenzEcho auf Seite eins. "Wie groß ist die existentielle Krise bei Vooruit nach dem Abgang von Conner Rousseau?", fragt sich De Morgen.
So schnell wird die Seite Conner Rousseau nicht umgeblättert
"Melissa Depraetere hat am Samstagmorgen auf sehr würdevolle Art und Weise das Zepter übernommen", findet Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Sie war umringt von den amtierenden Vooruit-Ministern, die der jungen Interimsvorsitzenden so ihre Unterstützung bekundeten. Depraetere selbst strahlte Selbstbewusstsein und Ruhe aus. Alles wirkte so, als könne die Seite Conner Rousseau schnell umgeblättert werden. Dann aber trat Christel Geerts auf dem Plan, also die Mutter von Conner Rousseau. Die beklagte in einem Fernsehstudio, dass ihr Sohn das Opfer einer Hexenjagd geworden sei. Und auch Melissa Depraetere weigert sich offensichtlich, den Bruch mit der Vergangenheit endgültig zu vollziehen, weil sie es einfach nicht schafft, Rousseaus Aussagen klar und deutlich als rassistisch und sexistisch zu bezeichnen. Damit macht sich die junge Vorsitzende gleich schon wieder angreifbar.
Stockholm-Syndrom bei Vooruit?
Het Nieuwsblad sieht das genauso. Der Rücktritt von Conner Rousseau war eine einmalige Chance, nochmal klar Farbe zu bekennen. "Vooruit lehnt Rassismus und Sexismus grundsätzlich und kategorisch ab, und wird das nie tolerieren!", so hätte eigentlich ohne Umschweife die Botschaft lauten müssen. Stattdessen drehten die neue Vorsitzende und die übergroße Mehrheit der roten Parteikader um den heißen Brei herum, schafften es einfach nicht, mit dem bisherigen Parteivorsitzenden zu brechen. Fazit: Bei den flämischen Sozialisten geht es nach wie vor nicht um den Inhalt, sondern vielmehr immer noch um Conner Rousseau. Die One-Man-Show geht weiter.
Het Laatste Nieuws bescheinigt der Partei sogar ein lupenreines Stockholm-Syndrom. Gemeint ist ja damit das Phänomen, dass Geiseln mitunter dazu neigen, aus Selbstschutzgründen mit ihren Geiselnehmern zu sympathisieren oder sich gar mit ihnen zu verbrüdern. Im Klartext: Nicht jene Menschen, die die Aussagen von Conner Rousseau über sich ergehen lassen mussten, sind in den Augen der Sozialisten die Opfer in dieser Geschichte, sondern allein der entgleiste Ex-Parteichef. Jemand wie Conner Rousseau verdient mit Sicherheit eine zweite Chance. Nur muss er dann erst die Opferrolle ablegen und sich offensiv mit seinen Aussagen beschäftigen.
Schafft Melissa Depraetere den nahtlosen Übergang?
Einige Blätter fragen sich derweil, wie es mit den flämischen Sozialisten jetzt wohl weitergehen mag. Die wichtigste Herausforderung für die neue Interimsvorsitzende wird darin bestehen, Vooruit auf Kurs zu halten, analysiert L'Avenir. Konkret: Gelingt es Melissa Depraetere, dafür zu sorgen, dass ihre Partei im Aufwind bleibt? Diese Frage ist gleich in doppeltem Sinne entscheidend. Erstmal für Flandern. Im Norden des Landes wird die Parteienlandschaft dominiert von rechten bis rechtsextremen Nationalisten. Vooruit war da bislang die einzig glaubwürdige gemäßigte Alternative. Und auch für die Linke an sich geht es hier um viel: In den letzten Umfragen waren die Sozialisten die größte politische Familie des Landes. Wegen der internen Verwerfungen bei Vooruit könnten also gleich mehrere Karten neu gemischt werden.
"Wer wird am Ende von der Vooruit-Verwirrung profitieren?", fragt sich auch Het Belang van Limburg. Bis vor kurzem noch konnte sich die Partei erfolgreich als das einzig wahre Bollwerk gegen die extreme Rechte inszenieren. Und das Gesicht dieser Strategie war in allererster Linie Conner Rousseau. Ob Melissa Depraetere diese Taktik nahtlos fortsetzen kann, das wird sich erst noch zeigen müssen. Dies schlichtweg, weil sie ein anderer Politikertyp ist. Conner Rousseau lebte vor allem von seiner enormen Präsenz in Sozialen Netzwerken. Seine Altersgenossin Melissa Depraetere kommt da wesentlich traditioneller daher. Die nächsten Monate werden ohne Zweifel spannend.
Eine Reform für die Vier-Tage-Woche
"Die Vier-Tage-Woche ist gefloppt", so derweil die Aufmachergeschichte von Le Soir. Vor genau einem Jahr hatte die Regierung die Möglichkeit geschaffen, dass Arbeitnehmer unter gewissen Voraussetzungen ihre zu leistende Arbeitszeit auf vier Tage pro Woche konzentrieren konnten. Von dieser Option haben aber bislang nur 0,5 Prozent der Beschäftigten Gebrauch gemacht.
Dieses erste Fazit mag in manchen Augen enttäuschend sein, dennoch sollte man daraus keine übereilten Schlüsse ziehen, mahnt Le Soir in seinem Leitartikel. Zum Beispiel sollte man diesen Flopp nicht als eine grundsätzliche Ablehnung der Vier-Tage-Woche betrachten. Aus Gesprächen mit Betroffenen kann man herauslesen, dass es vor allem die geltenden Bedingungen waren, die viele Arbeitnehmer abgeschreckt haben. Kurz und knapp: Das System war zu schwerfällig und machte die Dinge nur unnötig kompliziert. Was lernen wir daraus? Die Menschen wollen in erster Linie flexible Lösungen. Und vor allem: Wenn schon, dann auch eine wirkliche Vier-Tage-Woche, nämlich inklusive einer Senkung der Wochenarbeitszeit auf 32 Stunden. Denn, worum es hier wirklich geht, das ist die vielbeschworene Work-Life-Balance, also ein neues Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Privatleben. In jedem Fall bedarf es hier einer grundlegenden Reform. Und die Debatte sollte wirklich ohne Tabus geführt werden.
Roger Pint