"Die Open VLD steckt in einer tiefen, internen Krise", schreibt L'Echo auf Seite eins. De Morgen wählt drastischere Worte: "Offener Krieg bei der Open VLD", titelt das Blatt. "Die Open VLD steht am Rande der Implosion", so die alarmierte Schlagzeile von La Libre Belgique.
Die flämischen Liberalen Open VLD, also die Partei des Premierministers, leisten sich gerade eine fast beispiellose interne Zerreißprobe. Unmittelbarer Anlass ist die Benennung von Paul Van Tigchelt zum neuen Justizminister. Die Parteispitze hat diese Entscheidung offensichtlich im Alleingang getroffen und sich dabei über eine ganze Reihe von altgedienten Parteimitgliedern hinweggesetzt. Die interne Krise, die zudem in aller Öffentlichkeit ausgetragen wird, kommt für die Open VLD zu einem höchst ungelegenen Zeitpunkt, da die Partei aktuell mit katastrophalen Umfragewerten konfrontiert ist.
Eine Parteiführung ohne Partei
"Gemeinsam Richtung Abgrund", so bringt es Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel auf den Punkt. Dabei war die blaue Choreografie nach dem Brüsseler Anschlag gar nicht so schlecht. Nach einer Serie von Pannen trat Justizminister Vincent Van Quickenborne zurück. Ein Minister, der seine politische Verantwortung übernimmt, das ist in diesem Land sehr selten geworden. Es wurde auch schnell ein Nachfolger gefunden, der über unbestrittene Qualitäten verfügt. Doch gibt es bei der Open VLD dann immer noch einen dritten Akt, der da wäre: sich vor allen Augen in den eigenen Fuß zu schießen. Genau das beherrscht die Open VLD wie keine andere Partei. Das Signal ist verheerend. Denn es ist offensichtlich, dass es hier in erster Linie um Pöstchen geht. Und das vergisst der Wähler nicht.
Was wir da gestern gesehen haben, ist absolut beispiellos, findet auch Het Laatste Nieuws. Schon vor zehn Jahren wurde die Open VLD mit der Titanic verglichen. Nun, diese Titanic ist jetzt am Meeresgrund angekommen. Dass sogar Altmeister Patrick Dewael mit 68 Jahren öffentlich in Erwägung zieht, die Fraktion zu verlassen und seine letzten Monate als Unabhängiger in der Kammer zu sitzen, spricht Bände. Die massive Kritik, die viele Open-VLD-Leute gestern geübt haben, lässt nur einen Schluss zu: Die Parteiführung hat keine Partei mehr. Die Liberalen sind von Gott verlassen.
Das gestrige Schauspiel, bei dem sämtliche Konflikte auf offener Straße, vor laufenden Kameras ausgetragen wurden, hat etwas schrecklich Trauriges, meint De Tijd. Die ganze Welt wurde Zeugin einer regelrechten Selbstzerfleischung. Schon seit einiger Zeit hört man immer wieder die Analyse, dass die Open VLD im Grunde nichts anderes mehr ist als ein Premierminister ohne Partei. Diese Feststellung stimmt mehr denn je. Um Alexander De Croo wird es immer einsamer.
Das (Todes)urteil fällt im Juni
Het Belang van Limburg spricht von einem "blauen Bürgerkrieg". Inzwischen will man sogar ein Volksunie-Szenario nicht mehr ausschließen. Die Nationalisten-Partei war 2001 nach fast 50 Jahren auseinandergebrochen. Wenn die Liberalen nicht aufpassen, dann droht ihnen spätestens bei der nächsten Wahl dasselbe Schicksal. So könnte Alexander De Croo nicht nur in die Geschichte eingehen als der Mann, der 2010 den Stecker aus der Regierung Leterme zog, sondern auch 2024 den Stecker aus seiner eigenen Partei.
Der Vergleich mit der Volksunie hinkt, glaubt seinerseits De Standaard. Anders als bei der Volksunie sind die Bruchlinien bei der Open VLD nicht mehr ideologischer Natur. Bei der Volksunie ging es um den Graben zwischen dem rechten und dem linken Parteiflügel. Bei der Open VLD geht's nur noch um Eigeninteressen. Spitzenleute versuchen nur noch, ihre Haut zu retten. Was freilich nicht heißt, dass die Partei nicht tatsächlich von der Bildschwäche verschwinden könnte. Das Urteil fällt im Juni.
Und das hätten sich die flämischen Liberalen ausschließlich selbst zuzuschreiben, ist De Morgen überzeugt. Nicht Vivaldi ist das Problem, auch nicht die enge Verbindung zwischen dem Premier und dem Parteichef Tom Ongena, sondern nur die atemberaubende ideologische Leere der Open VLD. Nach einem Vierteljahrhundert an der Macht sind so ungefähr alle inhaltlichen Standpunkte über Bord gegangen, wurden Prioritäten verschoben, Programmpunkte teilweise in ihr Gegenteil verkehrt. Die Partei weiß wahrscheinlich selbst nicht mehr, wofür sie steht. Dabei gäbe es bestimmt einen Platz für den Liberalismus in Flandern, für eine mittelgroße, offene, fortschrittsorientierte, freie und unternehmerfreundliche Partei. Nur vielleicht ist das dann eben nicht mehr die Open VLD.
Ein funktionierender Staat!
Einige Zeitungen beschäftigen sich aber auch weiter mit dem Zustand der Justiz, dies vor allem im Lichte der folgenschweren Panne bei der Brüsseler Staatsanwaltschaft, die letztlich ja dazu geführt hat, dass der spätere Brüsseler Attentäter sich überhaupt noch in Belgien aufhielt. "Musste tatsächlich erst ein neuer Anschlag passieren, damit sich die Politik endlich mit den längst bekannten Problemen beschäftigt?", fragt sich sinngemäß L'Echo. Und bezeichnend ist dann auch noch, dass angeblich unlösbare Probleme sich offensichtlich über Nacht in Luft aufgelöst haben. Das diskreditiert die politisch Verantwortlichen nochmal zusätzlich. Viel zu lange hat man die Sorgen und Nöte einfach ignoriert, um jetzt, quasi auf dem Altar von unschuldigen Opfern, urplötzlich das zu tun, was man der Justiz so lange verweigert hatte. Das erforderliche Geld wurde dabei offensichtlich aus dem Hut gezaubert. Was bleibt, das ist aber die traurige Feststellung, dass das Image insbesondere der Brüsseler Staatsanwaltschaft jetzt endgültig ins Bodenlose gesunken ist.
Es ist nicht eine, sondern es sind drei Krisen, die das Vertrauen in den Staat nachhaltig erschüttert haben, konstatiert Le Soir. Erst hat die Pandemie die Missstände im Gesundheitswesen offengelegt. Dann haben die verheerenden Überschwemmungen den Beweis erbracht, wie ungenügend das Land auf derlei Katastrophen vorbereitet ist. Und am Montag vergangener Woche hat dann der Anschlag die Scheinwerfer auf die Justiz gerichtet, die wegen eines flagranten Mangels an personellen und materiellen Mitteln zum Teil noch funktioniert wie im Mittelalter. Die Schuld an alledem trägt freilich nicht allein die Vivaldi-Koalition. Das ist vielmehr das Resultat jahrzehntelanger Vernachlässigung. Hier geht's also nicht darum, Schuldige zu benennen. Es ist nur ein Appell an alle Verantwortlichen, die Organisation des Gemeinwesens noch einmal zu überdenken. Wir brauchen einen Staat, der rechtzeitig das Richtige tun kann und auch die Mittel dazu hat.
Roger Pint