"Nicht zulässig: Eklat beim Kernkabinett – zwei Minister geraten sich in die Haare", titelt das GrenzEcho. "Absoluter Tiefpunkt: Physischer Zusammenstoß zwischen Vizepremiers", greift das auch Het Nieuwsblad groß auf. "Chaos komplett: Vivaldi-Regierung in Trümmern: Nach Visa-Debakel um Lahbib rücken sich Minister nun auch physisch zu Leibe", liest man bei Gazet van Antwerpen.
Selbst nach den manisch-depressiven Normen der belgischen Politik erleben wir gerade ungewöhnlich brenzlige Tage, kommentiert De Standaard. Das Schicksal der Föderalregierung hängt an einem seidenen Faden. Und ob der auch noch gekappt wird, hängt allein von der emotionalen Kaltblütigkeit des MR-Parteipräsidenten ab. Die Spannung ist so groß, dass sie sich am Mittwoch in einem "nicht zulässigen" physischen Zusammenstoß entladen hat bei einer Sitzung des Kernkabinetts. Die Visagate-Affäre ist mittlerweile auf die Frage reduziert worden, wie tief und lang MR-Außenministerin Lahbib auf die Knie gehen soll vor dem Parlament, die Konkurrenz um Wählerstimmen innerhalb der Vivaldi ist zu Sadomasochismus verkommen, Sozialisten, Grüne und MR sind damit beschäftigt, sich gegenseitig möglichst zu erniedrigen. Obendrauf kommen noch gewisse Parteivorsitzende. Nicht nur Georges-Louis Bouchez, der sowieso eine Kategorie für sich darstellt, sondern auch zum Beispiel Sammy Mahdi. Und Vooruit verteidigt Conner Rousseau ja auch gerade bis aufs Blut. Wenn eine Partei sich nur noch über ihren Vorsitzenden definiert und der dann noch vor allem aus Ego besteht, dann bedeutet das eine immer brutalere Politik – und eine immer größere Gefahr für die Demokratie, warnt De Standaard.
Keine großen Chancen für eine Reanimierung
Es weht ein beklemmender Wind durch die Rue la Loi, stellt Het Nieuwsblad fest. Die Entlassung einer Ministerin liegt in der Luft, eine der Regierungsparteien wurstelt mit Skandalgerüchten rund um ihren Vorsitzenden. Gleichzeitig muss versucht werden, Knoten durchzuhacken in puncto große Steuerreform und befinden sich die meisten Parteien eigentlich schon halb im Wahlkampfmodus. Was es einem aber besonders kalt den Rücken runterlaufen lässt: Es scheint niemanden zu scheren. Da muss man sich schon fragen, warum die Bevölkerung sich noch für dieses Theater interessieren sollte. Vielleicht wären vorgezogene Neuwahlen in diesem Klima nicht die schlechteste Idee. Auch wenn eine Reanimierung, eine Schocktherapie, ein echter Neustart mit einem wirklichen gemeinsamen Projekt für das verbleibende Jahr natürlich besser wäre. Das würde auch sicher dabei helfen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Aber angesichts der offensichtlichen Gleichgültigkeit bei Regierungsparteien und Ministern scheint so ein Vorhaben schon von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein, befürchtet Het Nieuwsblad.
"Das Ende von Vivaldi ist wahrlich in Sicht"
Nein, das war sicher nicht die beste Woche für die belgische Politik, schreibt Gazet van Antwerpen. Und das ist ein Understatement von Format: eine lügende Ministerin, Uneinigkeit in der Regierung, ein Handgemenge im Kernkabinett und Spitzenminister, die mit ziemlich verschiedenen Versionen der Ereignisse an die Presse gehen. Wir sind politisch ja schon einiges gewohnt in diesem Land, aber was sich gerade abspielt, lässt selbst Politologen und Analysten ins Schleudern kommen. Das Ende von Vivaldi ist wahrlich in Sicht. Und selbst wenn die Regierung nicht fallen und zu einer geschäftsführenden Regierung werden sollte, würde sie so geschwächt aus der Geschichte herausgehen, dass sie kaum noch den Namen Regierung verdienen würde. Wobei die Vivaldi diese Bezeichnung eh immer nur mit Mühe und Not für sich beanspruchen konnte. In einer straff geführten Regierung wird nicht gelogen und wird nicht gekämpft und bleibt, was im Kernkabinett geschieht, auch im Kernkabinett. Aber die Regierung ist nicht mehr zu steuern, schon gar nicht von einem Alexander De Croo mit seiner Acht-Prozent-Partei, wettert Gazet van Antwerpen.
L'Echo beklagt, dass Hadja Lahbib mit ihrem sturen Leugnen von Fehlern in der Visa-Affäre ihre persönliche Ehre über das Allgemeinwohl stellt. Und dass sie damit die gesamte Föderalregierung blockiert. Dabei gibt es doch so viele wichtigere Dinge, um die sich die Regierung kümmern müsste. Um das Land voranzubringen, müssen die großen Herausforderungen angegangen werden: Arbeit, Steuersystem, Transition, Renten, öffentliche Finanzen und mehr. Und letzten Endes steht hier vor allem eines auf dem Spiel: das allgemeine Vertrauen in die Politik. Dieses Vertrauen ist schon stark beschädigt, was den Extremisten hilft und das Führen von Politik immer schwieriger macht. Dieses Vertrauen lässt sich auch nicht per Dekret zurückgewinnen oder durch Glück. Vielleicht gelingt das aber, wenn die Politikerinnen und Politiker anfangen, im Interesse des Allgemeinwohls ihre Grenzen und Fehler einzuräumen, hofft L'Echo.
"Titan": Kein Grund für Geschmacklosigkeiten
Das GrenzEcho greift in seinem Leitartikel das tragische Ende der Suche nach dem Tauchboot "Titan" auf: Kein Happy End, stattdessen aber Stoff für Geschmackloses. Dazu gehört auch Schadenfreude – nach dem Motto: "Das geschieht denen recht!" In den letzten Tagen wurde wiederholt auf einen krassen Gegensatz hingewiesen: Auf der einen Seite der aufwändige Rettungseinsatz im Nordatlantik für Gutbetuchte, die den Nervenkitzel suchten. Auf der anderen Seite das Kentern eines Fischkutters vor der griechischen Küste mit etwa 750 Migranten an Bord, über das weniger berichtet wurde. Dafür müssen wir uns aber nicht schämen. Denn anders als bei den Migranten wurden wir hier nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern verfolgten das Ganze in Echtzeit mit. Und dass Abenteuertouristen große Aufmerksamkeit erhalten, solange sie gerettet werden konnten, ist mehr als verständlich. Solche außergewöhnlichen Situationen lösen Emotionen aus. Das ist menschlich. Hinzu kommt der Neuigkeitswert – das alles ist für die Größe der Berichterstattung entscheidend, heißt jedoch nicht, dass die einen Menschen mehr wert sind als die anderen, unterstreicht das GrenzEcho.
Die Mittel, die in Bewegung gesetzt worden sind, um diese Abenteurer zu retten, die pro Kopf 250.000 Dollar bezahlt haben, haben hier und da zu empörten Reaktionen geführt, so La Libre Belgique. Gewisse Menschen fanden es himmelschreiend, dass so ein Aufwand betrieben worden ist, um "eine Handvoll Milliardäre" zu retten, gerade wenn man das mit dem Schiffsunglück im Mittelmeer vergleicht. Aber kann man sich wirklich guten Gewissens empören über den Versuch, fünf Menschen zu retten, fünf Menschen, denen vielleicht der Erstickungstod drohte in ihrem unterseeischen Sarg? Wir reden hier immer noch über menschliche Wesen. Ja, sie sind ein Risiko eingegangen, das war aber auch nicht unbedingt größer als das, das bestimmte Bergsteiger oder Taucher eingehen. Welche Rolle spielt dabei, ob sie reich oder arm sind? Ja, wir können uns ärgern, dass sie Risiken eingegangen sind. Aber das ändert nicht das Geringste daran, dass sie gerettet werden müssen und es ändert auch nichts an den Werten, die wir alle haben sollten, kritisiert La Libre Belgique.
Boris Schmidt