"Stiller Protest artet in Hexenjagd aus", schreibt Het Belang van Limburg auf Seite eins. "Öffentliche Empörung schwillt an", so Gazet van Antwerpen. "Der Prozess wird online weitergeführt – Geschäfte der Eltern der Reuzegommer werden mit Hassnachrichten überhäuft", meldet Het Nieuwsblad. "Jetzt auch Eltern und Anwälte im Fadenkreuz – Justizminister ruft zur Ruhe auf", fasst Het Laatste Nieuws zusammen.
Vor einer Woche sind die Urteile im Gerichtsprozess um den Tod von Sanda Dia verkündet worden. Dia war bei einer Studententaufe der Löwener Studentenvereinigung "Reuzegom" ums Leben gekommen. 18 Reuzegom-Mitglieder sind zu gemeinnütziger Arbeit und einem Bußgeld von 400 Euro verurteilt worden.
Es ist nachvollziehbar, dass die Empörung über das Strafmaß auch eine Woche nach der Urteilsverkündung groß bleibt, kommentiert Het Laatste Nieuws. Der Rechtsstaat macht keine gute Figur, die beteiligten Reuzegom-Studenten bekommen ja noch nicht einmal einen Eintrag in ihrer Strafakte, von einer Läuterung durch den Prozess kann wirklich keine Rede sein. Es ist deshalb auch richtig, wenn Kritik an der Entscheidung deutlich gemacht wird. Aber die Veröffentlichung und Verbreitung von Namen und Fotos der Reuzegom-Studenten im Internet, eine Hexenjagd, um das Gesetz quasi in die eigene Hand zu nehmen, kann auch nicht die Lösung sein. Urteile müssen im Gerichtssaal gefällt werden, nicht in den sozialen Medien. Schon jetzt werden selbst Angehörige von Reuzegom-Mitgliedern im Internet angegriffen, die nicht an der fatalen Studententaufe beteiligt waren. Einige von ihnen müssen deswegen bereits um ihre berufliche Existenz bangen. Wut und Vergeltung haben nichts mit echter Gerechtigkeit zu tun, mahnt Het Laatste Nieuws.
Die Gefahr digitaler Pranger
Kein Urteil des Gerichts hätte alle zufriedengestellt, merkt Het Nieuwsblad an. Aber die Urteile sind nuancierter, als viele denken. Das belgische Rechtssystem ist nun einmal komplexer und ausgeglichener als Auge um Auge und Zahn um Zahn oder das Abhacken von Händen bei Diebstählen. Auch Vorwürfe von Klassenjustiz und strukturellem Rassismus muss man – bis zum Beweis des Gegenteils – zurückweisen. Allerdings muss man auch festhalten, dass die Reuzegom-Mitglieder sich nicht sehr geschickt angestellt haben: Es ist der Eindruck mangelnder Empathie zurückgeblieben, kein Angeklagter hat die ganze Wahrheit erzählt, um sich und die Gruppe zu schützen, nicht alle hielten es für nötig, persönlich zur Verkündung des Urteils zu erscheinen. Aber all das ist kein Grund, so eine Hexenjagd zu entfesseln, wie es der in Flandern bekannte Youtuber "Acid" getan hat. Was bringt es denn, die Namen und Adressen der Betroffenen zu veröffentlichen? Dieser digitale Schandpfahl ändert das Urteil auch nicht. Ja, Kritik und selbst Protest gegen das Urteil können legitim sein. Aber nicht, wenn sie in verbale Lynchjustiz ausarten, kritisiert Het Nieuwsblad.
Fakt ist, dass die Familie von Sanda Dia weiter mit unbeantworteten Fragen dasteht, schreibt Het Belang van Limburg. Sie wissen nicht, wer Sanda das letztlich tödliche Fischöl verabreicht hat. Es tut weh, dass der Prozess hier keine Klarheit und Offenheit vonseiten der Reuzegom-Mitglieder gebracht hat. Aber es ist ein sehr schmaler Grat zwischen empörtem Bauchgefühl und Verleumdung – das gilt auch für digitale Pranger. Es wird Sanda Dia auch nicht zurückbringen. Zudem lenkt es vom eigentlichen Kern der Frage ab: Wie kann man den Wunsch nach einer gerechten Strafe mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer zweiten Chance für Täter in Einklang bringen?, so Het Belang van Limburg.
Die Naturwiederherstellung ist zu wichtig, um sie so zu opfern
De Standaard greift die belgisch-europäische Polemik um das sogenannte Gesetz zur Wiederherstellung der Natur auf. Hier sind ja zuletzt scharfe Worte zwischen Premierminister Alexander De Croo und EU-Kommissar Frans Timmermans gefallen. Manche der Äußerungen De Croos würden eher einem populistischen Euroskeptiker im Wahlkampfmodus zur Ehre gereichen als einem Regierungschef mit starken europäischen Überzeugungen und internationalen Ambitionen. Aber dennoch beweist der Schlagabtausch mindestens drei Sachen: Erstens, dass das Gesetz über die Wiederherstellung der Natur mittlerweile zur Chefsache erhoben worden ist, zweitens, dass die Nerven bezüglich des Gesetzes extrem blank liegen und drittens, dass die Debatte vom Wahlkampffieber infiziert worden ist. De Croo will nun direkt mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprechen. Hoffentlich führt uns das dann zurück auf die Straße der hohen Kunst des europäischen Kompromisses. Denn die Wiederherstellung der Natur ist zu wichtig, um sie wahlkampftaktischen Manövern zu opfern, appelliert De Standaard.
KI-Regulierung: Freiwilligkeit wird nicht reichen
Mit einem ganz anderen Thema befasst sich das GrenzEcho, nämlich mit den Ergebnissen eines Treffens von Spitzenvertretern der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten über die Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI): Das Resultat ist überschaubar – zwar will man künftig intensiv zusammenarbeiten, eine wirkliche Perspektive hinsichtlich der Regulierung solcher Systeme gibt es aber nach wie vor nicht. Herausgekommen ist vielmehr ein freiwilliger "Verhaltenskodex", der schwerste Schäden verhindern soll. Aber Freiwilligkeit wird den schwierigen Drahtseilakt zwischen Sicherheitsbedenken und den schier unendlichen Möglichkeiten von KI nicht lösen. Dafür braucht es eine umfassende Gesetzgebung. Und das besser heute als morgen. Ansonsten droht ein massiver Kontrollverlust an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte, warnt das GrenzEcho.
Boris Schmidt