"Frei!", titeln schlicht und einfach Le Soir und La Libre Belgique. "Endlich frei!", schreiben La Dernière Heure und L'Avenir auf Seite eins. "Olivier Vandecasteele ist wieder zu Hause", bemerkt das GrenzEcho. "Emotionales Wiedersehen nach 455 Tagen", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad.
Der belgische Entwicklungshelfer Olivier Vandecasteele ist wieder frei. Der 42-Jährige war am 24. Februar 2022 im Iran wegen angeblicher Spionage festgenommen worden. Seither wurde er unter meist unwürdigen Haftbedingungen festgehalten. Gestern wurde ein Gefangenenaustausch vollzogen: Vandecasteele wurde freigelassen, im Gegenzug überstellte Belgien den verurteilten Terroristen und Ex-Diplomaten Assadollah Assadi an den Iran. Die Föderalregierung musste da letztlich auf einen verfassungsrechtlichen Kunstgriff zurückgreifen. Denn die Zeit drängte.
"Freigelassen kurz vor der Exekution", so bringt es Het Laatste Nieuws auf den Punkt. "Olivier Vandecasteele ist wieder zu Hause: Freude, aber auch Kritik", notiert seinerseits De Standaard. Denn der Gefangenenaustausch, anders gesagt ein Deal mit einem Schurkenstaat, das sorgt vor allem in den Reihen der Opposition auch für Naserümpfen.
Ein Bekenntnis zur Menschlichkeit
"Die Regierung hatte eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera", analysiert Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Denn natürlich verdient der Gefangenenaustausch mit dem Iran keinen Schönheitspreis. Auf der einen Seite ging es um einen unschuldigen Landsmann, auf der anderen Seite um einen verurteilten Terroristen. Und hier gilt: Jedem seine Wahrheit. Denn klar, man kann auch sagen, dass Belgien angesichts der iranischen Erpressung eingeknickt ist. Und doch ist es aller Ehren wert, dass die Regierung sich die Hände schmutzig gemacht hat, um einem unschuldigen Belgier in Not zu helfen. Vielleicht ist das ein Zugeständnis an einen Schurkenstaat, es ist aber auch ein Bekenntnis zur Menschlichkeit.
Hier gilt eigentlich die Blackstone-Maxime, bemerkt dazu Het Laatste Nieuws. Der britische Jurist aus dem 18. Jahrhundert definierte das Prinzip, wonach es besser ist, dass zehn Schuldige freikommen, als dass ein Unschuldiger leiden muss. Die Regierung hatte keine Wahl: Ohne den Gefangenenaustausch wäre Olivier Vandecasteele mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer iranischen Gefängniszelle gestorben. Es ist denn auch viel zu einfach, um – wie etwa der Vlaams Belang – aus der Opposition heraus zu meckern, dass man auf diese Weise dem iranischen Staatsterrorismus in die Karten spielt. Die Regierung musste im vorliegenden Fall ihre Verantwortung übernehmen. Und das ist mitunter eben ein mieser Job. Die Regierung hat das einzig Richtige getan.
Ein Austausch mit Nebenwirkungen
La Dernière Heure scheint sich da nicht ganz so sicher zu sein. Die zweifellos enorme Erleichterung, die die Freilassung von Olivier Vandecasteele hervorruft, hat nämlich eine traurige Schattenseite. Hier wird ein Präzedenzfall geschaffen. Denn was hindert das Mullah-Regime in Teheran daran, jetzt weitere Belgier festzusetzen, um noch andere Terroristen freizupressen? Deswegen die klare Empfehlung: Alle Belgier sollten doch bitte einen weiten Bogen um den Iran machen.
Auch De Standaard scheint leichte Bauchschmerzen zu haben. Der Gefangenenaustausch mag moralisch zu verteidigen sein, er hat nichtsdestotrotz gewichte Nebenwirkungen. Kritiker haben nicht Unrecht, wenn sie die Befürchtung äußern, dass Belgien damit den Weg für eine regelrechte Geiseldiplomatie bereitet. Mit Terrorregimen zu verhandeln, fühlt sich immer unangenehm an, geschweige denn, wenn man besagtem Regime gegenüber nachgeben muss. Das kann man in Teheran als Ermunterung verstehen, um genauso weiterzumachen. Und das ist mindestens ein unglückliches Signal.
Das nennt man schlicht und einfach Realpolitik, ist demgegenüber De Tijd überzeugt. Ein Gefangenenaustausch war die einzige Alternative. Und Belgien hat da auch nichts erfunden. Die USA etwa haben gerade erst die in Russland inhaftierte Basketballspielerin Brittney Griner gegen einen berüchtigten Waffenhändler ausgetauscht. Und auch das Argument, wonach man den Iran jetzt dazu ermuntert habe, weitere westliche Bürger willkürlich festzunehmen, greift zu kurz. Denn das Regime in Teheran macht das schon seit 45 Jahren, dafür braucht es keinen neuen Freifahrtschein. Und noch etwas: Assadollah Assadi wäre sowieso früher oder später freigekommen. Fazit: Nach derzeitigem Wissensstand kann man die Befreiung von Olivier Vandecasteele eigentlich nur gutheißen.
Die Dringlichkeit als Richtschnur
La Libre Belgique ist ihrerseits einfach nur erleichtert. Nach 455 Tagen in der Hölle war es mehr als höchste Zeit, Olivier Vandecasteele zu erlösen. Natürlich war der Gefangenenaustausch letztlich ein unwürdiges Spektakel. Dafür ist aber allein der Iran verantwortlich. Belgien hat seinerseits das einzig richtige getan, nämlich einen unschuldigen Belgier zu befreien.
Le Soir sieht das genauso. "Wo du auch bist, wir werden alles tun, um dich nach Hause zu holen", so die Botschaft. Natürlich kann man über Einzelaspekte der Aktion lange diskutieren. Doch sollte man sich dabei immer die Bilder von gestern Abend vor Augen halten: Olivier Vandecasteele, der nach einem 455-tägigen Albtraum endlich wieder von seiner Familie und seinen Freunden in die Arme geschlossen werden kann. Wenn das Gesetz nicht ausreicht, wird die humanitäre Dringlichkeit zur Richtschnur.
Roger Pint