"Die Gewerkschaften haben ihren Protest in die Niederlande verlegt", titelt De Morgen. "Belgische Gewerkschaften und Klimaaktivisten nehmen die Unternehmensspitze von Ahold Delhaize ins Visier", so die Schlagzeile von De Tijd. "Die Aktionärsversammlung versucht, den aktuellen Konflikt auszublenden", schreibt L'Echo auf Seite eins.
Gestern fand im niederländischen Zaandam, nördlich von Amsterdam, eine allgemeine Aktionärsversammlung des Einzelhandelskonzerns Ahold Delhaize statt. Hier handelt es sich also um das Mutterunternehmen von Delhaize Belgien, wobei sich der große Ahold-Delhaize-Chef Frans Muller nie zu den Delhaize-Plänen in Belgien geäußert hat. Die Supermarktkette hat ja die Konzessionierung von 128 Filialen angekündigt. Die belgischen Gewerkschaften wollten also die Anteilseigner auf den Sozialkonflikt im südlichen Nachbarland aufmerksam machen. Bei der Aktionärsversammlung war das aber offensichtlich eigentlich kein Thema.
Delhaize – Trotz Ernüchterung ist es noch nicht zu spät
Die Protestreise der belgischen Gewerkschaften in die Niederlande endet also mit einer Ernüchterung, kann De Morgen nur feststellen. So groß der Konflikt um die Umstrukturierung hierzulande auch erscheinen mag, so bedeutungslos ist er letztlich für den Konzern. Die meisten Aktionäre wussten offensichtlich gar nicht, oder bestenfalls oberflächlich, was gerade in Belgien los ist. Der Sozialkonflikt bei Delhaize: Im Reich eines multinationalen Konzerns ist das nicht mehr als ein Donner in einer abgelegene Provinzregion. Das sollte den Gewerkschaften zu denken geben. Eine weitere Radikalisierung dürfte jedenfalls keine gewinnbringende Option sein. Was nicht heißt, dass man die Flinte ins Korn werfen muss. Zumindest die belgische Direktion muss einsehen, welch drastische Folge die Umstrukturierung tatsächlich für das Personal hat. Das ist Grundvoraussetzung dafür, dass beide Seiten wirklich über Maßnahmen verhandeln können, die die Folgen für die Betroffenen abmildern. Es ist noch nicht zu spät.
"Aber wo bleibt der Sozialschlichter?", fragt sich Le Soir in seinem Leitartikel. Anscheinend soll der Mediator erst am kommenden Dienstag die Arena betreten. Also stolze drei Wochen, nachdem Wirtschaftsminister Pierre-Yves Dermagne die Schlichtung angekündigt hatte, und sechs Wochen nach Beginn des Konflikts. Dieses Zögern ist angesichts der Schärfe des Konflikts und der hoffnungslos verhärteten Fronten nicht nachvollziehbar. Die Erfolgsaussichten der Mediation scheinen aber ohnehin eher gering zu sein. Dieser Eindruck hat sich gestern bei der Aktionärsversammlung von Ahold Delhaize in Zaandam noch einmal erhärtet. Der Konflikt in Belgien ist für den Konzern allenfalls eine Fußnote. Delhaize saß von Anfang an am längeren Hebel und kann den Konflikt letztlich aussitzen.
Arbeit muss attraktiver werden
L'Echo beschäftigt sich mit der Arbeitsmarktsituation im südlichen Landesteil. Die Feststellung ist immer die gleiche: Auf der einen Seite gibt es tausende offenen Stellen. 5.000 Lkw-Fahrer werden gesucht, die Baubranche braucht 20.000 neue Mitarbeiter, ganz zu schweigen vom Krankenhaus- und Pflegesektor. Auf der anderen Seite sehen wir die nach wie vor hohen Arbeitslosenquoten: 13,3 Prozent in der Wallonie, 15,3 Prozent in Brüssel. So bekannt diese Schieflage auch sein mag, diese Zahlen rütteln immer noch auf. Die erste Erklärung ist häufig eine Diskrepanz zwischen der Ausbildung und den realen Nöten, kurz und knapp: zwischen Angebot und Nachfrage. Das erklärt aber nicht alles. Mit Speck fängt man Mäuse. Arbeit muss attraktiver werden. Das gilt nicht nur für die Bezüge, sondern auch für Rahmenbedingungen. Die Ausbildung ist ein wesentlicher Hebel, aber nicht der einzige.
Gefahr einer neuen Finanzkrise nicht ganz ausgeschlossen
De Tijd analysiert die neuesten Inflationszahlen aus den USA. Die Teuerungsrate ist gleich um fünf Prozentpunkte gesunken, auf den niedrigsten Stand seit zwei Jahren. Das nährt die Hoffnung, dass die amerikanische Notenbank Fed in der Zinspolitik bald auf die Bremse steigen kann. Ganze neun Mal hat die Fed im vergangenen Jahr den Leitzins angehoben mit dem Ziel, die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Das hat auf den Finanzmärkten für erhebliche Unruhe gesorgt. Prominentes Opfer war insbesondere die Silicon Valley Bank. Und vielleicht war das noch nicht alles. Der Internationale Währungsfonds kann die Gefahr einer neuen Finanzkrise nach wie vor nicht vollständig ausschließen. Die positive Entwicklung der Inflation in Amerika hat die dunklen Wolken nicht vertrieben. Für die Zentralbanken, nicht nur in den USA, sondern auch hier, bleibt es ein Drahtseilakt.
Endlich Gehör für sexuell belästigte Frauen
L'Avenir schließlich kommentiert die neuerlichen Vorwürfe gegen den französischen Schauspieler Gérard Depardieu. In einer aufsehenerregenden Enthüllungsgeschichte erheben 13 Frauen schwere Vorwürfe gegen Depardieu: Es geht um sexistisches Verhalten, aber auch um sexuelle Übergriffe. Frappierend ist in der Reportage des Nachrichtenportals Mediapart das bleierne Schweigen, das diese Vorfälle umgibt, meint das Blatt. Schockierend ist auch, dass das Ganze immer vor Zeugen geschah, nicht nur die deplatzierten Aussagen, sondern auch eine zuweilen begrapschende Hand. Jeder, oder – sagen wir – fast jeder, wusste das. Und wenn einige Frauen es wagten, sich zu beschweren, dann hörten sie meist Sätze wie: "Oh, ça va, c’est Gérard", "Lass‘ mal, es ist eben Gérard". Die Parallelen zu den Vorfällen, die die Me-Too-Bewegung begründet haben, sind unübersehbar. Aber immerhin: Ein solches Verhalten geht heute nicht mehr durch, akzeptabel war es freilich nie. Aber jetzt finden die betroffenen Frauen endlich Gehör.
Roger Pint