"29-jähriger Polizeibeamter erstochen durch einen bekannten Extremisten", schreibt nüchtern Gazet van Antwerpen auf Seite eins. "Polizist in Schaerbeek getötet – Viele Fragen", titelt L'Avenir. Und die zentrale Frage steht auf der Titelseite von De Standaard: "Hätte der Mord an dem Polizisten Thomas Monjoie verhindert werden können?", fragt sich das Blatt.
Das Drama hat sich am Donnerstagabend in der Nähe des Brüsseler Nordbahnhofs ereignet. Ein mit einem Messer bewaffneter Mann riss die Tür eines Polizeiwagens auf, rief "Allahu akbar!" und stach auf den Beamten ein. Danach attackierte er auch den Beifahrer. Einer der beiden Polizisten erlag später seinen Verletzungen.
Das eigentlich Schlimme ist, dass diese Tat quasi mit Ansage kam. Het Laatste Nieuws bringt es auf den Punkt: "Radikalisiert, selbst Alarm geschlagen und doch frei", titelt das Blatt. Denn bekanntlich war der mutmaßliche Täter am Donnerstagmorgen noch zur Polizei gegangen und hatte darum gebeten, in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen zu werden. Er hatte offenbar Angst, dass er zur Tat schreiten könnte. Er wurde auch von Polizisten in ein Krankenhaus gebracht, das er später allerdings ungehindert verlassen hat. "Ein radikalisierter Täter, den man nicht festnehmen konnte", stellt also Le Soir fest.
"Das kann man doch niemandem erklären"
Hinzu kommt: "Der Täter war den Behörden schon seit sieben Jahren bekannt", notiert Het Nieuwsblad auf Seite eins. Er stand sogar auf der Gefährderliste des Anti-Terror-Stabs Ocam. La Libre Belgique spricht denn auch auf Seite eins von einem "unverständlichen Versagen".
"Zu viel in diesem Fall ist noch unklar", konstatiert Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel. Wie ist es möglich? Der Mann war den Behörden bekannt, stand sogar auf der Gefährderliste. Er bittet darum, dass man ihn vor sich selbst schützt. Man bringt ihn auch in ein Krankenhaus, das er dann aber ungehindert verlassen kann. Mal ehrlich: Ein Mann mit einem solchen Profil, der selbst angibt, dass von ihm eine Gefahr ausgehen könnte: Wenn man so einen nicht in Gewahrsam nehmen kann, kann man das doch niemandem erklären. Hier bedarf es jedenfalls schnellstens Antworten. Und es wäre schön, wenn jetzt nicht alle zuständigen Stellen gleich wieder den Regenschirm aufspannen würden. Denn ein Anschlag auf einen Polizisten ist ein Anschlag auf unser aller Sicherheit.
"Kafka lässt grüßen"
"Wo lag der Fehler?", fragen sich denn auch einige Zeitungen. Diese Sache ist komplexer, als es vielleicht auf den ersten Blick aussehen könnte, analysiert De Morgen. Die Polizei scheint ja im ersten Moment noch richtig gehandelt zu haben: Man entschied sich, den Mann in ein Krankenhaus zu bringen. Da stellte sich aber ein Problem: Weil er sich freiwillig in Behandlung begeben wollte, konnte der Mann nicht zwangseingewiesen werden. Und weil er nicht zwangseingewiesen werden konnte, konnte man ihn im Krankenhaus auch nicht festhalten. Und in der Folge passierte das, was nicht passieren durfte. Kafka lässt grüßen. Frage ist jetzt: Wusste jeder in der überfragten Entscheidungskette, mit wem man es da zu tun hatte? Wenn sich ein Mann mit einem solchen Profil selbst zur Polizei begibt, muss man doch wissen, dass man eine tickende Zeitbombe vor sich hat. Der Tod des Brüsseler Polizisten war in jedem Fall vermeidbar.
Und die offenen Fragen müssen dringend beantwortet werden, fordert La Libre Belgique. Jede Entscheidung in dieser Kette muss hinterfragt werden: Hat jeder getan, was er tun musste? Wurden die Protokolle eingehalten? Wurden vielleicht Einschätzungsfehler begangen? Wo lag der Fehler? Hier geht es nämlich um die Glaubwürdigkeit der Institutionen, die das Fundament unserer Demokratie darstellen.
De Standaard sieht das ähnlich. Dieser Fall muss gründlich aufgearbeitet werden. Nicht weil der Öffentlichkeit zwingend ein Sündenbock präsentiert werden muss, sondern weil unbedingt geklärt werden muss, wie die ganze Sache so schrecklich schiefgehen konnte. Denn das Ergebnis ist so klar wie dramatisch: Ein Polizeibeamter ist tot.
Ein dunkler Schatten auf der Anti-Terror-Politik
Und wie reagiert die Justiz? "Alles ist korrekt abgelaufen", erklärte sogleich der zuständige Prokurator des Königs. "Da fällt einem doch die Kinnlade runter", giftet Het Laatste Nieuws. "Alles ist korrekt abgelaufen"? Das ist doch eine Ohrfeige für jeden Polizisten in diesem Land. Ein den Behörden bekannter Extremist, der sich selbst für eine Gefahr hält, wird laufen gelassen und tötet dann einen Ordnungshüter. Und dann soll alles korrekt verlaufen sein? Mag sein, dass alle Prozeduren respektiert wurden. Wenn am Ende all dieser Prozeduren aber ein Polizist in einer Blutlache liegt, dann müsste man doch vielleicht eben diese Prozeduren mal hinterfragen.
Der Fall wirft einen dunklen Schatten auf die belgische Anti-Terror-Politik insgesamt, glaubt De Tijd. Auf der berüchtigten Gefährderliste des Anti-Terror-Stabs Ocam stehen etwas mehr als 700 Personen. Nach den Ereignissen vom Donnerstag stellt sich die Frage, inwieweit die Behörden dieses Landes diese Leute wirklich im Auge haben. Wie sonst ist es möglich, dass ein Mann mit einem solchen Profil einfach ungehindert das Krankenhaus wieder verlassen konnte?
Die Aufarbeitung wird schwierig
Natürlich besteht die Gefahr, dass man bei der Suche nach Antworten jetzt allzu ungeduldig ist und vorschnell einen Schuldigen benennt. Und natürlich darf man auch nicht vergessen, dass man im Nachhinein immer schlauer ist. Wir sind nun mal kein Polizeistaat, in dem man Menschen wegsperren kann, die noch keine Straftat begangen haben. Die Aufarbeitung wird schwierig, was aber nicht bedeutet, dass man nicht sofort damit anfangen muss, so De Tijd.
"Haben wir wirklich nichts gelernt?", fragt auch anklagend L'Avenir. Haben wir wirklich keine Lehren aus den Anschlägen vom 22. März 2016 gezogen? Das Drama vom Donnerstag schürt ernste Zweifel.
La Dernière Heure wird deutlicher: Die Empfehlungen des Ausschusses, der die Anschläge vom 22. März aufgearbeitet hat, wurden immer noch nicht vollständig umgesetzt. "Meine Damen und Herren Politiker, wir schreiben bald das Jahr 2023! Es reicht nicht mehr, nach jedem Drama einfach nur seine Bestürzung zum Ausdruck zu bringen! Übernehmen Sie ihre Verantwortung, bevor es zu spät ist.", fordert La Dernière Heure. "Denn Regieren heißt Vorausschauen."
Roger Pint