"Das Atomabkommen", titelt lapidar De Standaard. Das GrenzEcho ist präziser: "Zwei Reaktoren, zehn Jahre länger am Netz", so die Schlagzeile. Premierminister Alexander De Croo hat gestern bekanntgegeben, dass die Regierung ein Grundsatzabkommen mit dem französischen Energiekonzern Engie erzielt habe. Darin bekunden beide Seiten die ausdrückliche Absicht, die beiden jüngsten Kernreaktoren zehn Jahre länger am Netz zu lassen. Dies sei nötig, um in diesen Zeiten mit einer völlig veränderten geopolitischen Lage die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Es gibt da aber auch noch die andere Seite der Medaille: "Der Staat könnte einen Teil der Kosten für den Atommüll übernehmen müssen", bemerken Het Nieuwsblad und La Libre Belgique. Dem Abkommen zufolge ist es nämlich so, dass eine Zweckgesellschaft gegründet werden soll, die als Betreiberin der beiden verlängerten Reaktoren fungieren soll. Und an dieser Zweckgesellschaft wären der Staat und Engie jeweils zur Hälfte beteiligt. Auf diese Weise teilt man sich die Risiken, aber auch die Altlasten.
Kopf in der Schlinge
So weit ist es aber noch nicht. "Es gibt noch viele Hürden vor einer Laufzeitverlängerung", titelt Gazet van Antwerpen. Die endgültige Vereinbarung muss nämlich erst noch ausgehandelt werden. "Es gibt zwar ein Abkommen, aber im Grunde ist noch alles zu tun", so die Schlagzeile von Le Soir.
"So, so, Engie und der belgische Staat sind jetzt also in einem Boot", frotzelt Le Soir in seinem Leitartikel. Wobei man sich zunächst fragen muss, ob das, was die Regierung da gestern präsentiert hat, wirklich als ein Abkommen zu bezeichnen ist. Engie sprach jedenfalls nur von einer "nicht bindenden Absichtserklärung". Heißt also: Der französische Konzern fühlt sich zu nichts verpflichtet. Das Einzige, was man erreicht hat, das ist die Zusage, über die Problematik überhaupt zu verhandeln. Aber bleiben wir fair: Die Vereinbarung ist auch nicht nichts. Beide Seiten scheinen sich immerhin schon einmal darauf verständigt zu haben, dass man die Unternehmung gemeinsam angeht. Was unter anderem auch bedeutet, dass jetzt auch der Staat einen Teil der Gewinne abschöpfen kann. Wenn die denn in Zukunft noch abfallen. Unterm Strich sieht es mehr danach aus, dass sich der belgische Staat eine Schlinge um den Hals legt, während Engie seine Risiken minimiert.
Das GrenzEcho sieht das ähnlich: Der Staat wird wohl Miteigentümer zweier Kernkraftwerke. Mit allen damit verbundenen Unwägbarkeiten. Außerdem deutet einiges darauf hin, dass der Staat dem Energiekonzern eine Zusicherung geben will, die Kosten für die Lagerung und Sicherung des Atommülls zu deckeln. Den Restbetrag würde also der Steuerzahler übernehmen. Das stinkt förmlich nach der berühmten "Katze im Sack".
Finanzielle Risiken trägt der Steuerzahler
Was die geplante Deckelung der Folgekosten angeht, so ist das finanzielle Risiko erheblich, warnt auch Gazet van Antwerpen. Zum Beispiel hat Engie die Kosten für den Rückbau der sieben belgischen Kernreaktoren auf 18 Milliarden Euro geschätzt. Energieministerin Tinne Van der Straeten kam zu einem anderen Ergebnis. Nach ihren Berechnungen wird der Abbau der Anlagen 40 Milliarden Euro kosten, also mal eben mehr als das Doppelte. Wenn der Staat jetzt also hingeht und hier eine Obergrenze festlegt, dann ist das enorm riskant. Liegen die Kosten höher, dann bezahlt nämlich der Staat. Und damit der Steuerzahler. Insgesamt mag es so aussehen, als mache Engie ein solides Geschäft, während sich der Steuerzahler um die Unwägbarkeiten kümmern darf.
L'Echo spricht sogar von einem "Damoklesschwert über den Köpfen der künftigen Generationen". Der Staat soll plötzlich wieder zum Teilhaber an den Kernreaktoren werden. Das kann sich als ein sehr teures und in jedem Fall unvorhersehbares Unterfangen erweisen. Man denke nur an die Probleme, die Frankreich derzeit mit seinen Reaktoren hat. Ganz zu schweigen von dem drohenden Interessenskonflikt. Der Staat wäre nämlich zugleich Regulator und Miteigentümer. Wenn das mal nicht schizophren ist. Wie glaubwürdig wären etwa Entscheidungen in puncto Sicherheit oder Atommüll-Management, wenn eben diese Entscheidungen den Staat auch Geld kosten? Das alles nur, weil ausnahmslos alle Regierungen seit 2003 in der Energiepolitik keine Nägel mit Köpfen machen konnten.
Hier sieht man schlichtweg, wer am Verhandlungstisch am längeren Hebel sitzt, seufzt Het Belang van Limburg. Der belgische Staat ist hier nun mal in der Bittsteller-Position. Immerhin wird das jetzt dazu führen, dass die Kosten für die atomaren Altlasten mal akribisch berechnet werden. Das ist in diesen Zeiten, in denen die Atomenergie plötzlich wieder den Wind in den Segeln hat, sehr willkommen. Auf diese Weise werden wir nämlich endlich mal erfahren, wie hoch der Preis für die Kernenergie wirklich ist.
Nach vorne blicken
Insgesamt muss man sagen, dass man sich das alles viel früher hätte überlegen sollen, findet La Libre Belgique. Über die Laufzeitverlängerung hätte man reden müssen, als Engie sie noch forderte. Jetzt verhandelt man mit dem Rücken zur Wand.
Politiker zu sein, das heißt, die Probleme zu erkennen, bevor sie unlösbar werden, meint auch L'Avenir. Seit 2003 flüchten die Parteien vor ihrer Verantwortung. Die Rechnung kriegen wir frühestens in zehn Jahren präsentiert.
Auch MR und N-VA sollten sich mit ihrer Kritik zurückhalten, empfiehlt De Morgen. Ihre Vorwürfe an die grüne Energieministerin klingen doch reichlich hohl. Beide Parteien saßen in der Vorgängerregierung. Sie hätten also für einen geordneten Ausstieg aus dem Atomausstieg sorgen können. Doch auch sie haben es verbockt. Vor den Grünen muss man demgegenüber den Hut ziehen. Ungeachtet ihrer Überzeugungen reagieren sie auf die neue Weltlage und ziehen Konsequenzen, die ihrer Basis bestimmt nicht gefallen. Das verdient Respekt.
Lasst uns doch nach vorne blicken, so der Rat von De Staandard. Es ist, wie es ist. Der Krieg in der Ukraine hat die Ausgangslage fundamental verändert. Die Laufzeitveränderung der beiden Reaktoren war politisch unvermeidlich geworden. Und der Preis dafür ist nun mal eine staatliche Beteiligung an diesem Projekt. Kurzfristig liefert das eine Antwort auf unsere aktuellen Sorgen. Was aber nichts daran ändert, dass Kernenergie zu teuer und vor allem zu risikobehaftet ist. Kurz und knapp: Jetzt sollten wir damit beginnen, den Atomausstieg 2035 vorzubereiten.
Roger Pint