"70.000 Belgier auf der Straße; und Magnette marschiert mit", titelt Het Laatste Nieuws. "70.000 Menschen in den Straßen der Hauptstadt, eine weitere Warnung für die Vivaldi-Koalition", schreibt La Libre Belgique auf Seite eins. "Der Druck der Straße steigt um eine Stufe", so die Schlagzeile von Le Soir.
Zwischen 70.000 und 80.000 Menschen haben gestern an der nationalen Kundgebung der Gewerkschaften in Brüssel teilgenommen. Sie wollten für eine Stärkung der Kaufkraft demonstrieren. Insbesondere verlangen die Gewerkschaften eine Lockerung des Gesetzes von 1996, das die so genannte Lohnnorm festlegt, also eine Obergrenze für mögliche Gehaltserhöhungen. Die Arbeitgeber und auch die Regierung verweisen in diesem Zusammenhang auf die Lohn-Index-Bindung, die doch automatische Gehaltserhöhungen mit sich bringen. Die Gewerkschaften meinen es jedenfalls ernst. "Kommen noch weitere Protestaktionen?", fragt sich De Morgen. Das GrenzEcho glaubt die Antwort zu kennen und spricht von einem "Vorgeschmack auf einen heißen Herbst".
Die Regierung wird das gestrige Signal jedenfalls nicht ignorieren können, ist La Libre Belgique überzeugt. Dafür waren es schlichtweg zu viele Demonstranten. Und deren Anliegen sind außerdem nachvollziehbar. Es ist offensichtlich, dass die Indexierung und auch die verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen für bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht ausreichen. Die Rede ist vor allem von der sogenannten unteren Mittelschicht, der wegen der anhaltend hohen Inflation das Wasser bis zum Hals steht. Und diese untere Mittelschicht verlangt zu Recht strukturelle Maßnahmen zur Abfederung der hohen Preise.
Streit um das Lohnnorm-Gesetz
Die Vivaldi-Koalition kann sich nicht länger hinter der Lohn-Index-Bindung verstecken, glaubt auch L'Avenir. Eine Lockerung des Lohnnorm-Gesetzes mag nicht im Koalitionsabkommen stehen, man muss aber auf beiden Augen blind sein, um nicht zu erkennen, dass die Kaufkraft vieler Belgier gehörig unter Druck geraten ist. Und dass parallel dazu einige Unternehmen in den letzten Monaten saftige Gewinne eingefahren haben. Die Forderung nach einer Lockerung des Gesetzes von 1996 ist also nicht völlig aberwitzig. Das scheinen auch einige Regierungsparteien so zu sehen: Die Sozialisten und Grünen sind gestern schließlich mitmarschiert.
Das GrenzEcho sieht das ganz anders. Das Lohnnorm-Gesetz wurde nicht eingeführt, um die Arbeitnehmer in diesem Land zu ärgern. Es ging und es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Wirtschaft. Und die gerät zunehmend unter Druck. Nicht zuletzt wegen der automatischen Lohn-Index-Bindung. Es empfiehlt sich ein Blick auf unsere direkten Konkurrenten. Erste Tarifabschlüsse in Deutschland deuten darauf hin, dass man sich dort für eine Politik der Mäßigung entschieden hat. Die würde auch Belgien gut zu Gesicht stehen.
Echter Dialog zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften nötig
Beide Seiten haben recht, glaubt ihrerseits die Wirtschaftszeitung L'Echo. Auf der einen Seite muss man einräumen, dass die Lohn-Index-Bindung nicht alle Arbeitnehmer gleichermaßen schützt. Auf der anderen Seite kann man auch nicht behaupten, dass alle Unternehmen in letzter Zeit sprudelnde Gewinne eingefahren hätten. Einigen wir uns auf die simple Feststellung, dass die Inflation allen Akteuren zusetzt. Deswegen: Begrabt das Kriegsbeil! Wartet nicht darauf, dass die Politik alles regelt! Redet miteinander! In diesen Krisenzeiten brauchen wir einen wirklichen Dialog zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Die Situation ist schon kompliziert genug. Eine Verhärtung der Fronten würde alles nur noch schlimmer machen.
Gazet van Antwerpen schlägt in dieselbe Kerbe: Die Gewerkschaften haben gestern ihre Zähne gezeigt, die Arbeitgeber schlugen gleich knallhart zurück. Und obendrauf zeigt die Vivaldi-Koalition Risse. So lösen wir kein Problem. Was wir jetzt brauchen, das ist ein Dialog, bei dem alle Beteiligten allein das Allgemeinwohl vor Augen haben. Zugegeben: Nach dem, was wir gestern gesehen haben, sieht es leider eher nicht danach aus.
Energieversorgung – In die Defensive gedrängt
"Belgien will den Abschaltplan für Gas anschärfen", so derweil die Aufmachergeschichte von De Tijd. Die Schwesterzeitung L'Echo führt aus: "Die Unternehmen werden nach ihrem Gasbedarf befragt, um Ausfälle zu verhindern". 1.000 Betriebe werden darum gebeten, ihren Mindestbedarf an Gas mitzuteilen. Auf dieser Grundlage soll eine Prioritätenliste erstellt werden. Dies alles für den Fall, dass das Gas im Winter – wider Erwarten – doch knapp werden sollte.
Diese Vorgehensweise ist richtig, analysiert De Tijd in ihrem Kommentar. Es gibt tatsächlich Unternehmen, die durchgehend Gas benötigen. Wenn etwa ein Glasofen abkühlt, dann kann das verfestigte Glas nicht mehr aus der Anlage entfernt werden. Dass wir überhaupt über solche Abschaltpläne nachdenken müssen, zeigt aber, in welch prekärer Lage wir uns befinden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine mit all seinen Folgen setzt Europa gehörig unter Druck. Und insbesondere in der Energiepolitik scheint Moskau im Moment am längeren Hebel zu sitzen. Energie sollte eigentlich viele Kriterien erfüllen: billig, grün, ohne Atommüll und mit Versorgungssicherheit. In all diesen Punkten drängt uns Moskau in die Defensive.
"Frankreich ist ein bisschen belgischer geworden"
Einige Zeitungen schließlich blicken nach Frankreich, wo Präsident Macron jetzt im Parlament nach Verbündeten suchen muss, nachdem seine Partei bei der Parlamentswahl am Sonntag die absolute Mehrheit verfehlt hat. Die Franzosen sollten jetzt mal die Kirche im Dorf lassen, findet De Standaard. "Die Hölle", "eine Katastrophe", "unregierbar", was hat man doch da für ein Katzenjammer in Paris gehört. Dabei ist Frankreich doch eigentlich nur ein bisschen belgischer geworden. Jetzt muss man eben mal Kompromisse schließen. Vielleicht war das das Signal der französischen Wähler.
Wobei, so relativiert Le Soir: Der viel gerühmte belgische Kompromiss hat ja auch längst Sand im Getriebe. Während Frankreich am Sonntag belgischer geworden ist, wünschte man sich in Belgien bis vor kurzem noch französische Verhältnisse, die es etwa einem Präsidenten erlaubten, einfach mal durchzuregieren. Das Fazit mag nachdenklich stimmen: In Frankreich wie in Belgien scheint der Demokratie die Puste auszugehen. Ob nun Verhältnis- oder Mehrheitswahlrecht: Die Systeme scheinen an ihre Grenzen zu stoßen. Und am Ende aller taktischen Spielchen profitieren allein die Extremisten.
Roger Pint