"Bürgerbefragung gestartet: Nationales Brainstorming über neue Staatsreform", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins. "Zukunft des Landes: Die Vivaldi konsultiert die Belgier", titelt Le Soir. "Die föderale Ebene befragt endlich die Bürger", so die Überschrift bei L'Avenir.
Die Föderalminister Annelies Verlinden (CD&V) und David Clarinval (MR) haben eine Online-Bürgerbefragung über die Zukunft des Landes lanciert, fasst Gazet van Antwerpen in ihrem Leitartikel zusammen. Hintergrund ist, dass die Föderalregierung bis zum Ende der laufenden Legislatur 2024 eine neue Staatsreform vorbereiten will. Die Befragung soll die Bürger miteinbeziehen in diesen Prozess.
Zweifelsohne haben viele Belgier etwas dazu zu sagen, in welche Richtung sich das Land entwickeln sollte und wie das am besten zu bewerkstelligen wäre. Jeder, der älter als 16 Jahre ist, darf seine Meinung kundtun zu unserer Staatsstruktur, zur Frage, wie Parlament und Regierung funktionieren sollten, zu den Befugnissen der Behörden, zur Beteiligung der Bürger und zu den Grundrechten. Daran ist im Prinzip nichts verkehrt, im Gegenteil! Aber unsere Staatsstruktur ist so undurchsichtig, dass selbst die meisten Politiker sie nicht ganz verstehen. Die Befragung ist also vor allem etwas für Akademiker und spezialisierte Politiker. Einen echten Einblick, wie der Durchschnittsbelgier darüber denkt, wird man so aber nicht bekommen, meint Gazet van Antwerpen.
Viele Fragen
Bisher haben die Bürger die Staatsreformen vor allem als Zuschauer verfolgt, hält Le Soir fest. Sie sind nie wirklich um ihre Meinung gefragt worden – außer vielleicht in sehr indirekter Form über die Wahlen oder sehr oberflächlich über Meinungsumfragen. Gerade vor dem Hintergrund des immer größer werdenden Grabens zwischen Bürgern und Politik sollte man solche Initiativen auch nicht grundlos heruntermachen. Aber die Grenzen des jetzt vorgestellten Projekts werden sofort offensichtlich.
Zunächst einmal wird die Vivaldi-Regierung beweisen müssen, dass es sich nicht um ein Scheinmanöver handelt, dass der Bürger hier nicht für taktische politische Manöver missbraucht werden soll. Man muss sich auch Fragen stellen wegen der Form der Befragung. Wie soll zum Beispiel verhindert werden, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht vorab ausgeschlossen wird, weil die Themen zu komplex und zu wenig zugänglich sind? Wie soll verhindert werden, dass die Antworten nicht von Parteien oder anderen Gruppen manipuliert werden, um ihren eigenen institutionellen Zielen zu dienen?
Und dann ist da noch die große Frage, wie mit den nicht bindenden Antworten umgegangen werden soll? Wie soll Ernüchterung und Enttäuschung bei den Bürgern verhindert werden, wenn letzten Endes die Staatsreform doch wieder zwischen einigen wenigen politisch Verantwortlichen verhandelt werden wird? Also ganz wie früher von den Kräfteverhältnissen zwischen den Parteien abhängen wird?, fragt Le Soir.
Zweifel müssen erlaubt sein
Hoffen wir, dass die Zukunft des Landes wirklich auf der Basis der kollektiven Intelligenz der Bürger entworfen werden wird – so wie angekündigt, schreibt L'Avenir. Aber Zweifel daran müssen erlaubt sein. Denn Belgien ist ein Land, in dem die Parteien und ihre Vorsitzenden grosso modo bestimmen, wo es langgeht. Eine sechs Wochen lange Befragung der Bürger wird nicht ausreichen. Insbesondere, weil sie vielleicht nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung mobilisieren wird, den Teil, der sich ohnehin schon vorher für die institutionellen Probleme interessiert hat. Um diesen partizipativen Prozess zu einem echten Erfolg zu machen, muss die Beteiligung breit und vielfältig sein, müssen die Vorschläge wirklich berücksichtigt werden und muss alles vor allem vollkommen transparent vonstatten gehen, unterstreicht L'Avenir.
Sie dürfen sich jetzt also äußern, stichelt Het Laatste Nieuws. Müssen aber nicht. Und vielleicht wollen Sie das ja auch gar nicht. Zum Beispiel, weil Sie glauben, dass Sie für genau solche Sachen doch Politiker gewählt haben. Und falls Sie sich doch die Mühe machen wollen, vielleicht scheitern Sie an der schwierigen Registrierung, an den vielen Schritten, am Themen-Dschungel, an den offenen Fragen. Wer wird also bereit sein, all diese Hürden auf sich zu nehmen? Die Engagierten. Die, die Zeit haben. Die, die Lust haben. Und die, die von ihren Parteien, Gewerkschaften oder anderen Organisationen oder Gruppen dazu aufgerufen werden.
Die N-VA wiederum hat die Initiative der Föderalregierung sofort abgeschossen. Und schießt sich damit in den eigenen Fuß. Denn sollte nicht auch sie ihre Wähler auffordern, ihre Meinung über die zukünftige Struktur des Staates kundzutun? All das legt den Finger in die offensichtliche Wunde: die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre Interessen können so nicht korrekt abgebildet werden, wettert Het Laatste Nieuws.
Lieber ein echtes öffentliches Brainstorming
Das größte Problem solcher Initiativen ist, dass sie nicht repräsentativ sind, hält auch De Morgen fest. Alle partizipativen und deliberativen, also beteiligenden und beratenden, Prozesse bevorteilen die Bürger, die über ausreichend Zeit, Vorkenntnisse und Motivation verfügen, um daran teilzunehmen. Die Stimmen der anderen bleiben ungehört. Wenn also das Ziel der Übung jetzt sein soll, die Ergebnisse der Befragung als Entscheidungen einer repräsentativen Gruppe von Bürgern darzustellen, dann betrügt die Regierung die Bevölkerung und sich selbst.
Aber es kann durchaus nützlich sein, in Sachen nächste Staatsreform auf die Bürger zu hören – und zwar, um zu versuchen, die 50 Jahre dauernde Dominanz der Parteipolitik und die althergebrachten Denkmuster bei den Staatsreformen zu durchbrechen. Allerdings nicht in Form einer verkappten Volksbefragung. Sondern in Form eines echten öffentlichen Brainstormings, jenseits des Einheitsdenkens der Rue de la Loi, fordert De Morgen.
Boris Schmidt