"Biden sagt neun Worte zu viel", so der Aufmacher bei De Standaard. "Joe Biden fordert Putin heraus", titelt Le Soir. "Biden brennt alle Brücken nieder: 'Putin darf nicht an der Macht bleiben', sagt der US-Präsident", erklärt Het Nieuwsblad auf Seite eins, warum die Rede von Joe Biden in Polen so hohe Wellen schlägt.
"For God's sake, this man cannot remain in power", "Herrgott noch mal, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben" – nach Kennedys "Ich bin ein Berliner" und Reagans "Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!" wird möglicherweise auch Bidens Redeende in die Geschichtsbücher des ideologischen Kampfes zwischen dem Westen und Russland eingehen, kommentiert De Standaard. Natürlich hat Biden Recht, wenn er sagt, dass Wladimir Putin besser nicht an der Macht bleibt. Klug waren die Worte aus dem Mund eines Präsidenten der Vereinigten Staaten dennoch nicht. Dadurch stärkt Biden die Kreml-Propaganda, dass der Westen der Aggressor ist. Die Bündnispartner Amerikas warnen vor einer unnötigen Eskalation, hält De Standaard fest.
Diplomatisches Geschick und Kaltblütigkeit nötig
Dieser Tenor findet sich auch in allen anderen Leitartikeln zum Thema wieder: Auf den ersten Blick scheint Biden zur Absetzung Putins aufzurufen. Aber das Umfeld des US-Präsidenten konnte dem nach der Rede Bidens gar nicht schnell genug widersprechen, unterstreicht De Morgen. Aber egal, was Biden nun tatsächlich sagen wollte, seine Worte illustrieren vor allem eines: die enorme Herausforderung, vor der der Westen in den kommenden Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren stehen wird. Einerseits muss man versuchen, Putin international so stark wie möglich zu isolieren, indem man ihn resolut als das bezeichnet, was er ist: ein mörderischer Diktator, der vor nichts zurückschreckt. Andererseits muss der Westen darauf achten, dass er Putin keine Vorwände liefert, um diese schon jetzt historische Krise weiter anzuheizen. Denn es geht hier um einen Gegner, der über Atomwaffen verfügt. Die tektonischen Platten unserer Welt sind in Bewegung, nichts, was früher als sicher galt, ist es noch. Außer vielleicht einer Sache: Um diese Krise mit einem Regimewechsel in Russland zu beenden, wird es außergewöhnlich viel diplomatisches Geschick und Kaltblütigkeit brauchen, unterstreicht De Morgen.
Es war ein achtlos hinzugefügtes Sätzchen, das eindeutig nicht im Skript stand, ergänzt Het Belang van Limburg. Aber Biden meinte, was er sagte. Der Satz war außerdem nicht für die Europäer gedacht, sondern für die Amerikaner. Biden hat das ausgesprochen, was viele Menschen denken. Dennoch war es eine dumme Idee. Biden hat Putin dieses Wochenende auch noch einen "Schlächter" genannt. Und vor zehn Tagen einen "Kriegsverbrecher". Für diese Aussagen ist ihm der Kreml-Machthaber dankbar, denn er kann das als Propaganda beim eigenen Volk einsetzen. Wenn wir ein Ende dieses blutigen Krieges wollen, dann müssen wir Spannungen abbauen. Staatsführer müssen ruhig bleiben. Von "historischen Reden", die Konflikte anheizen, haben wir nichts, mahnt Het Belang van Limburg.
Geopolitik ist ein extrem zynisches Spiel
Damit es keine Missverständnisse gibt: Der Kremlherrscher ist ein Diktator und Kriegsverbrecher, so La Dernière Heure. Er hat den sinnlosen Krieg befohlen, unter dem das ukrainische Volk seit mehr als einem Monat leidet. Es reicht, die Bilder von den Resten Mariupols zu sehen, um Lust zu haben, Biden zuzustimmen, wenn der Putin als "Schlächter" bezeichnet. Aber für einen Präsidenten ist es ein Fehler. Die einflussreichen Männer und Frauen dieser Welt sollten sich nur für ein Ziel einsetzen: den Frieden, und zwar so schnell wie möglich, fordert La Dernière Heure.
Viele im Westen können sich mühelos in der Rede Bidens wiederfinden, schreibt Het Nieuwsblad. Dennoch war es eine Aussage, die er als amerikanischer Präsident besser nicht gemacht hätte. Biden mag sich befreiter gefühlt haben, aber kompromissbereiter wird Putin dadurch sicher nicht. Die Episode ist Propaganda-Gold für den Kreml, um die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen. Geopolitik ist ein extrem zynisches Spiel. Niemand bleibt unberührt von den Bildern aus dem von Russland kaputtgebombten Mariupol. Selbstverständlich wollen alle im Westen, dass Putin endgültig von der Bildfläche verschwindet. Aber leider hilft es niemanden, das auch laut auszusprechen, so Het Nieuwsblad.
Gazet van Antwerpen schlägt in dieselbe Kerbe: Sind die politischen Reaktionen auf Bidens Rede im Westen scheinheilig? Vielleicht schon. Aber Weltpolitik ist nun mal kein sauberes Handwerk. Das müsste auch Joe Biden wissen. Wenn sich die Gegner einmal am Verhandlungstisch gegenübersitzen werden, dann werden sich wahrscheinlich auch Biden und Putin wieder in die Augen sehen müssen. Das wird schon so nicht einfach werden. Und genau deshalb muss Biden auch jetzt jedes seiner Worte sorgfältig abwägen. Ganz egal, was er und wir von den Verbrechen des russischen Präsidenten halten, betont Gazet van Antwerpen.
Ist das Rennen wirklich schon gelaufen?
Le Soir blickt in seinem Leitartikel dann nach Frankreich: Bislang hat man nicht viel vom laufenden Präsidentschaftswahlkampf mitbekommen. Er wird vom Ukraine-Krieg überschattet, davor war es die Pandemie. Viele Franzosen glauben außerdem, dass die Sache ohnehin gelaufen ist, was dazu führt, dass sie das Ganze noch weniger interessiert. Sie glauben, dass Emmanuel Macron wieder gewinnen wird, nachdem er sich in der zweiten Runde mit Marine Le Pen messen wird. Aber ist das Rennen wirklich gelaufen, 15 Tage vor der Wahl? Die Umfragen bleiben volatil, ebenso wie die öffentliche Meinung. Neben Melenchon und Le Pen ist da vor allem auch noch Zemmour, der den Hass seiner Anhänger auf Macron am Sonntag wieder auf neue Höhe gepeitscht hat. Selbst wenn Macron wiedergewählt werden sollte, was noch nicht sicher ist, wird er auf einem echten Pulverfass sitzen, befürchtet Le Soir.
Boris Schmidt