"Arbeitsmarktreform in kleinen Schritten", titelt das GrenzEcho. "Viele Fragen zur Vier-Tage-Woche", so die Schlagzeile bei Le Soir. "Spätschichten bedeuten für mich vormittags Quality-Time mit meinem Sohn", zitiert De Morgen eine Beschäftigte im Onlinehandel auf seiner Titelseite.
Die Arbeitsmarktreform, auf die sich das föderale Kernkabinett gestern geeinigt hat, ist heute das große Thema in den Leitartikeln der Zeitungen. La Libre Belgique lobt: Das ist ein guter Appetithappen und macht Lust auf mehr Entscheidungen der Vivaldi-Koalition. Diese müssen auch kommen, um das angekündigte Ziel der Arbeitsmarktreform zu erreichen, nämlich die Beschäftigungsquote in Belgien auf 80 Prozent zu bringen. Aber das, was man uns gestern geboten hat, kann sich durchaus schon sehen lassen: Eine bessere Work-Life-Balance, Arbeitnehmer können einfacher unter Vertrag genommen werden, Verbesserung der Arbeitsverhältnisse für Mitarbeiter von Internet-Plattformen. Und das alles, ohne die Arbeitgeberseite auszubremsen. Die Reform hat gezeigt, dass die Vivaldi-Koalition sich auf sinnvolle Dinge einigen kann. Bitte mehr davon, wünscht sich La Libre Belgique.
Fast genauso sieht es die Wirtschaftszeitung L'Echo, wo es heißt: Der Weg zur Beschäftigungsquote von 80 Prozent ist noch weit. Die vorgelegten Maßnahmen bilden aber einen guten Start, um das Ziel zu erreichen. Jetzt muss nachgelegt werden. Vor allem müssen auch die Regionen bei dem Spiel mitmachen und ein paar Gänge höher Schalten bei ihren Anstrengungen, den Arbeitsmarkt anzukurbeln, fordert L'Echo.
Regierung macht es sich zu einfach
De Standaard lenkt den Blick ebenfalls auf die Regionen und findet: Die Föderalregierung macht es sich zu einfach mit dieser Reform. Denn die große Herausforderung, die sie sich mit den 80 Prozent Beschäftigungsquote gesetzt hat, geht sie nicht wirklich an. In Flandern werden die 80 Prozent mit Blick auf die aktuellen Beschäftigungsquoten wohl kein Problem sein. Aber sehr wohl in Brüssel und der Wallonie. Die Verantwortung, daran etwas zu ändern, schiebt die Föderalregierung an die Regionen ab. Obwohl die Regierung mit der jetzt vorgelegten Reform durchaus auch neue Maßnahmen hätte ergreifen können, um die Regionen bei ihren Bemühungen stärker zu unterstützen, kritisiert De Standaard.
Das GrenzEcho urteilt: Mehr als ein Reförmchen ist nicht herausgekommen. Es gibt von zu wenigem ein wenig. Vor allem aber mehr Flexibilität. Man kommt nicht um die Feststellung umhin, dass hier eine Reform gestrickt wurde, in der für jede der Regierungsparteien genug drin ist, damit sie vor ihre Anhänger treten und mit dem Finger auf den eigenen Stempel unter der Reform weisen kann. Mit der Reform hat sich Belgien aber keineswegs einen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Nachbarn verschafft. Ein etwas schaler Geschmack bleibt zurück, bedauert das GrenzEcho.
Gemütlich rollt der Fiat …
Zu wenig ist die Reform auch für Het Laatste Nieuws, die daran erinnern: Im Oktober, als Premier De Croo die Reform angekündigt hatte, war noch die Rede davon, dass die Sozialpartner das machen sollten. Doch dann nahm die Vivaldi-Koalition das lieber selbst in die Hand. Wahrscheinlich aus der einfachen Überlegung, dass sich bei einem so schwierigen Thema sieben Parteien schneller einigen werden als Arbeitgeber und Gewerkschaften. Jetzt liegt das Ergebnis vor. Und wir werden an das Auto erinnert, an den Fiat, mit dem PS-Chef Paul Magnette die Koalition mal umschrieben hat. Der Fiat ist jetzt gemütlich ins Rollen gekommen. Aber wird das reichen, um den Motor zu starten? Wohl kaum, ätzt Het Laatste Nieuws.
Le Soir fragt: Haben die linken Parteien der Vivaldi-Koalition, vor allem die PS, nicht zu viel verloren bei dieser Reform? Nehmen wir allein die Vier-Stunden-Woche: Klar, die ist jetzt da. Aber nicht so, wie PS und auch die Grünen das gerne gehabt hätten. Statt insgesamt weniger zu arbeiten, müssen die Stunden des fünften Tages vorgearbeitet werden. Das macht Arbeitstage von 9,5 Stunden. Eine klare Niederlage für die Linke. Denn dadurch wird auf dem Altar der Flexibilität eine Errungenschaft geopfert, für die die Linke früher mal so lange gekämpft hatte: Nämlich die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal acht Stunden. Man darf gespannt sein, wie die Anhänger von PS und Grünen die Kompromisse der Reform quittieren, notiert Le Soir.
Alles ganz normal
De Morgen bleibt gegenüber aller Kritik an der Reform gelassen und schreibt: Es ist doch selbstverständlich, dass diese Reform ein Kompromiss ist. Unser ganzer Staat ist aufgebaut auf Kompromissen. Grundlegendes in einem so komplizierten Gebilde wie Belgien zu ändern, ist mit einer Reform kaum zu schaffen. Doch wenn man die jetzt vorliegenden Kompromisse vergleicht mit denen, die unter der Vorgängerregierung geschlossen wurden, dann ist durchaus ein Fortschritt zu erkennen. Die Frage, ob man das Glas halb voll oder halb leer sehen möchte, muss jeder für sich selbst beantworten, rät De Morgen.
Kay Wagner