"Auf dem Weg zu neuen Lockerungen", titelt De Morgen. "Die Rückkehr zur Normalität", schreibt sogar De Standaard auf Seite eins. Nach einem Monat kommt heute erneut der Konzertierungsausschuss zusammen. Die Vertreter aller Regierungen des Landes werden höchstwahrscheinlich neue Lockerungen beschließen. Zum Beispiel geht man davon aus, dass die Sperrstunde für Horeca-Betriebe aufgehoben wird. "Am 1. September wieder an der Theke sitzen, am 1. Oktober wieder in die Disco", so fasst es Het Nieuwsblad zusammen. "Grünes Licht für Nachtclubs erwartet", so die Schlagzeile von La Dernière Heure. "Diskotheken werden am 1. Oktober wieder öffnen", ist Het Laatste Nieuws überzeugt.
Auf dem Tisch liegt aber auch noch eine sehr umstrittene Maßnahme: "Der Konzertierungsausschuss plant eine Impfpflicht für Pflegekräfte", so etwa die Aufmachergeschichte von Le Soir. Dies jedenfalls geht aus einem Beschlussentwurf hervor.
Das vielbeschworene "Reich der Freiheit" kommt
Für Premierminister Alexander De Croo wird es wohl der lang erwartete Tag der Genugtuung, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Endlich darf er das vielbeschworene "Reich der Freiheit" ankündigen. Ab dem ersten Oktober werden alle Bremsen gelöst. Klar, das wird ohne Zweifel für einen Anstieg der Zahl der Neuinfektionen sorgen. Auch werden wohl wieder mehr Patienten im Krankenhaus behandelt werden müssen. Gut ist das nicht. Es muss aber auch nicht dramatisch sein. Glaubt man den aktuellen Zahlen, dann werden es vor allem die Impfverweigerer sein, die am Ende im Krankenhaus landen werden. Offensichtlich wird das von der Politik so hingenommen. Denn es ist Zeit, dass die absolute Freiheit wieder zurückkehrt. Und das ist der Impfkampagne zu verdanken.
"Denn wer die Impfung nicht wollte, der hat sich für das Virus entschieden", so formuliert es De Standaard. Der Konzertierungsausschuss wird heute wohl fast alle Türen in Richtung Freiheit wieder öffnen, ausgehend von der Tatsache, dass jeder jetzt wirklich die Gelegenheit bekommen hat, sich impfen zu lassen. Wer nicht geimpft ist, der wird früher oder später an Covid erkranken. In absehbarer Zeit wird also jeder auf die eine oder andere Weise immun sein. Dass in der Zwischenzeit noch Menschen erkranken oder vielleicht auch sterben werden, das nimmt man ab jetzt in Kauf. Man strebt nicht mehr das Nullrisiko an, denn dafür ist der Preis zu hoch. Diese Diskussion ist schon lange abgeschlossen.
Der problematische Fall Brüssel
"Doch wie steht es mit Brüssel?", fragen sich einige Zeitungen. Denn in der Tat: Die Impfquote in der Hauptstadt beläuft sich auf gerade einmal 60 Prozent. Zum Vergleich: In Flandern sind es fast 90 Prozent, gibt De Tijd zu bedenken. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das bedeutet nämlich ganz konkret: In Flandern kann die Zahl der Neuinfektionen zunehmen, ohne dass eine Überbelastung der Krankenhäuser drohen würde. Corona wird damit zu einem Virus, mit dem man leben kann, während in der Hauptstadt der Druck auf die Krankenhäuser anhält. Deswegen sieht es wohl so aus, als bekämen wir in Belgien ab jetzt eine Corona-Politik der mindestens zwei Geschwindigkeiten. Brüssel steht am Vorabend eines zweiten Herbstes, in dem man die Corona-Pandemie wesentlich schlechter unter Kontrolle hat als der Rest des Landes.
Ja, die Situation in der Hauptstadt ist ein ernstes Problem, ist auch L'Echo überzeugt. Vor allem im Norden des Landes sieht man das als einen weiteren Beweis für das Unvermögen und die Inkompetenz der Brüsseler Verantwortlichen. Aber ist das wirklich so? Man kann nicht leugnen, dass die Brüsseler Behörden erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um die Impfquote in ihrer Region anzuheben. Wenn man genauer hinschaut, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass die schlechten Brüsseler Zahlen nur der x-te Ausdruck der bekannten Probleme der Hauptstadt sind. Allen voran die Armut, die vor allem die Stadtviertel im Zentrum und im Nordwesten prägt. Man sollte sich also nicht auf die schlechte Impfquote versteifen. Wenn es Brüssel besser gehen soll, dann muss man das Problem der Armut anpacken.
"Rette sich, wer kann!"
Es gibt heute aber noch ein zweites großes Thema: "Heute startet die Evakuierung der Belgier in Kabul", titelt etwa Het Belang van Limburg. Von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad aus werden ab heute belgische Transportflugzeuge Kabul ansteuern, um belgische Staatsbürger und so genannte Ortskräfte auszufliegen. Aktuell sind vier Evakuierungsflüge geplant. "Viermal 30 Minuten, um 580 Menschen aus Afghanistan zu retten", schreibt De Standaard auf Seite eins.
"Rette sich, wer kann!", so bringt De Morgen in seinem Leitartikel das allgemeine Gefühl auf dem Punkt. Für die Belgier und die afghanischen Ortskräfte, die den Belgiern geholfen haben, hat es noch länger gedauert, ehe endlich ein belgisches Flugzeug in Kabul landen konnte. Das hat unter anderem auch damit zu tun, dass die Regierung Michel im Jahr 2014 die belgische Botschaft in der afghanischen Hauptstadt geschlossen hat. Eine der vielen Sparmaßnahmen. Experten hatten schon damals davor gewarnt, dass Belgien dadurch im Begriff war, seine außenpolitischen Fühler zu verlieren. Jetzt jedenfalls sind wir vollkommen abhängig vom guten Willen der Amerikaner und der Taliban.
"Business as usual"?
Die Evakuierungsaktion kann aber in vielen westlichen Ländern noch für innerpolitische Verwerfungen sorgen, warnt Het Laatste Nieuws. Hierzulande haben auch schon die üblichen Verdächtigen, wie zum Beispiel der N-VA-Politiker Theo Francken, die Frage aufgeworfen, inwieweit die geretteten Menschen wirklich schutzbedürftig sind. Und ob auch wirklich alle einer Sicherheitsprüfung unterzogen wurden. Und ob sie wirklich für die Belgier gearbeitet oder hier Familie haben. Im Moment überwiegen noch die schrecklichen Bilder aus Kabul. Innenpolitisch droht aber bald schon business as usual.
Die Evakuierungsoperationen werden aber ohnehin nicht der Schlusspunkt sein, orakelt Het Belang van Limburg. Die Verzweiflung unter den Afghanen ist immens. Außerdem erweisen sich die Beschwichtigungen der Taliban schon jetzt als Lügen. Es steht also zu erwarten, dass viele Menschen aus dem Land flüchten werden. Europa sollte sich schon jetzt darauf vorbereiten. Einen neuen Streit über die Asylpolitik kann sich die EU nicht leisten.
Roger Pint