"Ich werde Staatsfeind Nummer eins sein", titeln Het Belang van Limburg und Het Nieuwsblad. Das ist ein Zitat aus dem Abschiedsbrief, den Jürgen Conings seiner Freundin hinterlassen hat. Darin macht er klar, dass er eigentlich mit dem Leben abgeschlossen hat. "Mir ist es egal, ob ich sterbe oder nicht. Hauptsache, das passiert auf meine Art", zitiert Gazet van Antwerpen auf ihrer Titelseite aus dem Brief.
Und offensichtlich hatte es Jürgen Conings wirklich ganz konkret auf den Virologen Marc Van Ranst abgesehen. "Er lag zwei Stunden auf der Lauer vor dem Haus von Van Ranst", titelt Het Laatste Nieuws. Das geht aus neuesten Erkenntnissen der Ermittler hervor. Auch deswegen wird nun offiziell gegen den Berufssoldaten ermittelt wegen versuchten Mordes und Waffenbesitzes in einem terroristischen Kontext. Laut Het Nieuwsblad hat er in seinem Brief auch von einem zweiten Ziel gesprochen: Demnach wollte er einen Anschlag auf eine Moschee im limburgischen Eisden verüben.
Notwendige Aufmerksamkeit für Masse der Unzufriedenen
Dennoch: "Tausende Flamen betrachten Jürgen Conings als einen Helden", schreibt De Standaard auf Seite eins. "Die Sozialen Netzwerke heben Conings auf einen Schild", so formuliert es De Morgen. Tatsächlich gibt es inzwischen sogar schon eine Facebook-Gruppe, in der Jürgen Conings regelrecht verklärt und gefeiert wird. Die Gruppe zählt aktuell knapp 20.000 Mitglieder.
Das sind die falschen "Daumen hoch", mahnt Het Laatste Nieuws in seinem Leitartikel. Die Erstürmung des Capitols in Washington Anfang des Jahres hatte noch etwas unfreiwillig Komisches. "Die bekloppten Amis eben", mögen sich viele noch gesagt haben. Ein hitzköpfiger Haufen von verstrahlten Verschwörungsgläubigen, die sich von Donald Trump hatten aufstacheln lassen. Jetzt aber zeigt sich: Wir sind in Belgien nicht so weit von solchen Zuständen entfernt, wie wir vielleicht gerne glauben würden. In der Provinz Limburg ist ein Rechtsterrorist mit vier Raketenwerfern unter dem Arm aus einer Kaserne spaziert und droht damit, einen Virologen zu ermorden. Und es gibt tausende Flamen, die da in Sozialen Netzwerken ihren Daumen heben. Eine Frau hat sogar angeboten, sich als menschlicher Schutzschild vor Conings zu stellen. Das ist mindestens genauso besorgniserregend wie die Bedrohung durch Jürgen Conings. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als äußere sich hier eine allgemeine Unzufriedenheit. Die Coronakrise hat dieses Gefühl noch befeuert, hat das Misstrauen in die Behörden noch größer gemacht. In den nächsten Monaten wird man dieser Bevölkerungsgruppe viel Aufmerksamkeit entgegenbringen müssen.
Der Kanarienvogel in der Kohlemine
"Hier ist ein Märtyrer in der Mache", warnt auch De Standaard. In den letzten Stunden hat sich gezeigt, dass Jürgen Conings doch nicht ein so einsamer Wolf ist, wie man geglaubt hatte. Vielmehr ist er der Kanarienvogel in der Kohlemine: Er steht stellvertretend für ein stetig wachsendes Problem. Seit einiger Zeit schon warnen die Sicherheitsdienste vor dem anschwellenden Selbstvertrauen bei rechtsextremen Gruppierungen. Parallel dazu hat der rechtsextreme Vlaams Belang mehr denn je den Wind in den Segeln. Neuesten Umfragen zufolge erreicht die Partei inzwischen Rekordergebnisse. In einem solchen Klima brechen sich Rassismus und verbale Gewalt Bahn, fällt jede Schamgrenze. Es gibt digitale Wellen der Sympathiebekundungen für "den Soldaten, der sein Leben in den Dienst der Nation stellt". Ein Märtyrer eben. Die potenziellen Folgen dieser Geschichte können nicht nur für die belgische Armee sehr brenzlig sein.
Hier wird ein Giftcocktail zusammengerührt, analysiert auch Het Belang van Limburg. Hier geht es um viel mehr als nur einen Mann, dem die Sicherungen durchgebrannt sind. Jürgen Conings ist ein radikalisierter Extremist mit Verbindungen zu einschlägig bekannten Neonazigruppen und verurteilten Rechtsradikalen. So ist der "Rambo von Limburg" unter anderem befreundet mit Tomas Boutens, dem Chef des belgischen Ablegers der rechtsextremistischen Vereinigung BBET, was ja für "Blut, Boden, Ehre und Treue" steht. Diese Gruppe plante 2006 Anschläge in Belgien. All diese Leute sorgen im Netz für einen konstanten Strom von rechtsradikaler und rechtspopulistischer Rhetorik und die Frage ist, wie viele Menschen sich dadurch radikalisieren lassen. Der Staatsschutz warnt schon lange vor dieser Gefahr. Einige Parteien wie der Vlaams Belang vergiften natürlich auch noch die Köpfe. Es wird Zeit, dass wir einsehen, dass es immer Leute geben wird, die am Ende den Worten Taten folgen lassen.
Die Frage der Identität ist keine einfache
Man spricht vom "limburgischen Rambo", doch dieser Vergleich hinkt, findet La Dernière Heure. Im Film ist der Held, der von Sylvester Stallone dargestellt wird, ein Opfer von Polizeigewalt, und das ruft letztlich sein Trauma aus dem Vietnamkrieg wach. Jürgen Conings ist da deutlich weniger sympathisch. Er zögert nicht, unschuldige und unbewaffnete Zivilisten zu bedrohen. Wobei: Noch hat er niemanden umgebracht und man kann nur hoffen, dass diese Geschichte ohne Blutvergießen zu Ende gebracht werden kann.
Zu alledem passt auch der Leitartikel von L'Echo. "Ist es im Belgien von heute eigentlich noch möglich, über Identität zu sprechen, ohne sich gegenseitig in der Luft zu zerreißen?", fragt sich das Blatt nachdenklich. Offensichtlich wird es immer komplizierter, die Vielfalt als Bereicherung zu betrachten. Es ist, als müsste "der Andere" grundsätzlich im Unrecht sein. Der Jude, der Araber, der Türke, der Schwarze, der Weiße, die Frau, der Mann, der Flame, der Frankophone, der Schwule, der Hetero ... Sie alle können, je nach Kontext, die Minderwertigen sein. Wie soll man in einem so gemischten Land wie Belgien eigentlich noch zusammenleben, wenn man seine Zeit damit verbringt, immer nur die Unterschiede hervorzuheben? Natürlich ist die Frage der Identität keine einfache. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht stellen oder nicht darüber diskutieren sollte. Denn in diesem Land fällt es immer schwerer, eine Gesellschaft zu bilden, die diesen Namen verdient.
Adieu 'Get up Wallonia'
Einige frankophone Zeitungen beschäftigen sich ihrerseits mit dem Wiederbelebungsplan, den die wallonische Regionalregierung gestern vorgestellt hat. "Adieu 'Get up Wallonia'", meint dazu etwas kryptisch Le Soir in seinem Leitartikel. "Get up Wallonia", so hieß bis vor Kurzem noch der Plan, der die Wallonie wieder auf die Beine bringen sollte. Dann kam die Corona-Krise. Und ab jetzt wird einzig die Wiederbelebung der Wirtschaft im Vordergrund stehen. Da ist es eigentlich eine Frage der Klarheit, dass man die alten Pläne ganz beiseitelegt, und nicht zwei Programme parallel laufen lässt.
Das Ganze hätte aber etwas detaillierter sein dürfen, krittelt L'Avenir. Im Moment beschränkt man sich immer noch darauf, die großen Leitlinien zu kommunizieren. Statt der Suppenkelle hätte man sich aber eher den Kaffeelöffel gewünscht: Genaue Einzelheiten, konkrete Projekte, all die Dinge, die den Wiederbelebungsplan vor dem inneren Auge Gestalt annehmen lassen würden.
Der Plan ist aber immerhin gespickt mit guten Absichten und Vorsätzen, findet La Libre Belgique. Gut, das galt auch schon für die vielen anderen Pläne, die in Namur auf die Schienen gesetzt worden sind und deren Bilanz viel zu oft am Ende allzu durchwachsen ausfiel. Fakt ist jedenfalls, dass die Wallonie auch nach 20 Jahren nicht den erhofften Sprung gemacht hat. Klar, es wäre jetzt zu einfach, den neuen Plan noch vor dem eigentlichen Start abzuschießen. Man kann ja immer mal träumen. Nur gibt es doch einen gewissen Erfolgsdruck. In einigen Jahren wird Namur auf einige Nord-Süd-Transfers verzichten müssen. Insofern spielt die Wallonie mit diesem Wiederbelebungsplan eigentlich gerade ihre letzte Karte aus.
Roger Pint