"Die Tür ist zu", titelt De Morgen; und das Blatt präzisiert: "Das Beratergremium Gems fällt ein deutliches Urteil mit Blick auf den Konzertierungsausschuss: Für Lockerungen ist es noch zu früh". Andere Zeitungen sind nicht ganz so eindeutig: "Die Kontaktblase dürfte vergrößert werden", glaubt etwa L'Avenir. "Streit zu erwarten beim Konzertierungsausschuss über das Verbot von Auslandsreisen", schreibt seinerseits La Libre Belgique.
Im Mittelpunkt steht zunächst der morgige Konzertierungsausschuss, bei dem die Vertreter aller Regierungen des Landes also wieder über die Corona-Lage beraten werden. Viele hoffen auf Lockerungen, oder wenigstens konkrete Perspektiven. "Oliver Paasch drängt auf Zeitplan für Öffnungen", so die Schlagzeile des GrenzEchos. "SO will der Horeca-Sektor sicher öffnen", schreibt Het Laatste Nieuws auf Seite eins. Die Branche hat einen Plan vorgelegt, mit dem sie die Politik überzeugen will, um am 1. April wieder öffnen zu können.
"Die Menschen sind nicht mehr zu halten", kann Het Nieuwsblad auf Seite eins nur feststellen. Zwei Fotos illustrieren das, die auch auf anderen Titelseiten zu sehen sind. Auf dem einen sieht man den Löwener Stadtpark, der gestern Nachmittag brechend voll war. Und auf dem anderen sieht man eine Szene in Gent, wo 1.000 Menschen am Abend dicht gedrängt im Stadtzentrum standen.
Der Druck ist in den letzten Tagen jedenfalls spürbar gestiegen. Erst gestern hat der Ecolo-Co-Vorsitzende Jean-Marc Nollet eingeräumt, dass er sich nicht mehr hundertprozentig an die Kontaktbeschränkungen hält. Damit sorgte er für einen Sturm der Entrüstung.
Es bleibt doch ein Patzer
"Spontanes Geständnis oder orchestrierter Kommunikations-Coup?", fragt sich L'Echo in seinem Leitartikel. Es gibt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, aber im Grunde bleibt es doch ein Patzer. Das Gesetz gilt nun mal für alle! Und Politiker müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Und, wenn eine Regel unsinnig ist, dann liegt es eben an den Politikern, daran etwas zu ändern.
Mit seiner Entgleisung sorgt Nollet jedenfalls dafür, dass das Kommunikationschaos noch ein bisschen größer und die Glaubwürdigkeit der Politik noch ein bisschen kleiner wird. Schlimmer noch: Bei alledem vergisst man am Ende, worum es hier geht: Wir müssen die Pandemie in den Griff bekommen. Und nach all den Irrungen und Wirrungen der letzten Monate erwarten die Menschen von ihren Politikern eigentlich nur Effizienz und Verantwortungsbewusstsein.
Jean-Marc Nollet mag nur das ausgesprochen haben, was viele denken; und er ist wohl auch nicht der einzige, der nicht eine, sondern zwei Personen einlädt. Dabei vergisst er aber, dass er eben kein Bürger wie jeder andere ist, kritisiert Le Soir. Nollet ist Co-Vorsitzender einer Partei, die noch dazu auf fast allen Machtebenen Teil der Regierung ist. Er kann sich also nicht allen Ernstes als das Opfer von behördlichen Maßnahmen hinstellen, schließlich gehört er zu denen, die eben für diese Maßnahmen verantwortlich zeichnen. Wenn Nollet die Menschen wirklich entlasten will, dann sollte er sie nicht dazu ermuntern, die Regeln zu missachten, sondern sich bei den Koalitionspartnern Gehör verschaffen.
"Ball der Scheinheiligen"
Einige Zeitungen sind nicht ganz so streng. "Was ist schlimmer: Die Regeln nicht zu befolgen oder zu lügen?", fragt sich etwa L'Avenir. Nollet ist nicht der einzige, der einige Regeln ernsthaft infrage stellt. Und, wie sagte schon Montesquieu: "Überflüssige Gesetze schwächen notwendige Gesetze". Nollet hat es vorgezogen, ehrlich zu bleiben und dabei den Finger in die Wunde zu legen. Das ehrt ihn. Transparenz ist im politischen Aquarium ein seltenes Gut.
La Dernière Heure geht noch weiter: "Wir sehen hier einen Ball der Scheinheiligen", meint das Blatt. Der Sturm der Entrüstung, der auf die Aussagen von Nollet folgte, war reine Heuchelei. Denn, was hat er gesagt? Er hat lediglich zugegeben, nicht eine, sondern zwei Personen einzuladen, ein Paar eben. Das heißt doch nicht, dass er wilde Partys mit 15 Teilnehmern veranstaltet. Nollet ist dem Journalisten nicht in die Falle getappt, er hat einfach nur spontan und ehrlich geantwortet, und der Bevölkerung damit aus der Seele gesprochen.
Das Ganze war sehr wohl geplant, ist La Libre Belgique in ihrem Leitartikel überzeugt. Geplant, aber - zugegeben - immerhin ehrlich. Doch liegt hier nicht das Problem. Jean-Marc Nollet macht hier einen moralischen Fehler. Erstmal, weil seine Botschaft an die Bürger im Grunde nur lautet: "Tut was ich sage, aber macht nicht, was ich tue". Denkt man das zu Ende, dann kann also jeder selbst entscheiden, welche Regeln er befolgt und welche nicht. Zweitens verhöhnt er damit auch die Menschen, die sich an die Regeln halten und die sehr darunter leiden. Und drittens war der Vorstoß den Koalitionspartnern gegenüber illoyal. Solidarität wird zwar auch in dieser Koalition nicht unbedingt großgeschrieben, doch wurde hier ein trauriger Tiefpunkt erreicht.
"Ein 'ehrlicher' Fehler bleibt ein Fehler"
Ein "ehrlicher" Fehler bleibt ein Fehler, giftet Het Nieuwsblad. Nollet wollte nach eigener Aussage nicht scheinheilig sein; und vielen hat er wohl tatsächlich aus der Seele gesprochen. Doch ist der Vorstoß dafür immer noch nicht zu verteidigen. Erstens: Nollet ist eben kein Bürger wie jeder andere. Ottonormalverbraucher kann den Eindruck haben, dass über seinen Kopf hinweg entschieden wird; Nollet gehört seinerseits zu den Entscheidungsträgern. Und mit seiner angeblichen Ehrlichkeit untergräbt er nur noch weiter die Akzeptanz für die Maßnahmen. Vielleicht hat er dennoch damit punkten können. Dann nennt man das aber einen billigen Erfolg.
Ehrlichkeit kann man Nollet tatsächlich nicht absprechen, findet Het Laatste Nieuws. Wäre eine Lüge besser gewesen? Wahrscheinlich nicht. Viel einfacher wäre es, wenn sich Nollet einfach nur an die Regeln halten würde, die er selbst mit ausgearbeitet und beschlossen hat. Und wenn er es nicht tut, warum sollten es denn die Bürger machen? Im Grunde sehen wir hier nur Feigheit. Sich auf die Seite der Bürger stellen, das ist einfach. Natürlich muss man die Corona-Regeln kritisch begutachten. Aber, in diesen Tagen müssten Politiker eigentlich der grassierenden Corona-Müdigkeit entgegenwirken, statt sie zu befeuern...
Roger Pint