"Die brasilianische Variante hat Belgien erreicht", titelt Het Nieuwsblad. "Das Auftreten der brasilianischen Variante macht die Pandemie noch unvorhersehbarer", schreibt De Standaard auf Seite eins.
Zum ersten Mal wurde in Belgien bei einem Covid-Patienten die brasilianische Variante nachgewiesen. Das Auftreten immer neuer Mutationen sorgt allgemein für Kopfzerbrechen. Niemand kann vorhersagen, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln wird. Die neuen Varianten sind oft wesentlich ansteckender als die bisher bekannten. Und auch in Sachen Impfschutz gibt es viele Fragezeichen.
"Draußen mehr Lockerungen als drinnen", so die Aufmachergeschichte von Het Laatste Nieuws. Anscheinend wird doch darüber nachgedacht, die Schrauben noch ein bisschen zu lockern. Das würde aber nur für Aktivitäten unter freiem Himmel gelten. Beispiel: Im Moment dürfen ja nur Vierergruppen gemeinsam wandern. Vielleicht wird diese "Spazierblase" vergrößert, laut Het Laatste Nieuws gibt es für solche Lockerungen jedenfalls immer mehr Befürworter, auch unter den Gesundheitsexperten.
"Der Zug der Lockerungen hat anscheinend wieder den Bahnhof verlassen", kann Het Laatste Nieuws aber insgesamt nur feststellen. Jeden Tag treten Politiker auf den Plan, die für neue Lockerungen plädieren.
Was wir derzeit sicher wissen: dass wir nichts wissen
De Standaard kann das Ganze offensichtlich nicht mehr ertragen. Politiker versuchen, sich gegenseitig zu überbieten, indem sie immer wieder neue mögliche Lockerungen in den Raum stellen. Sie sehen sich darin bestätigt durch die stetig sinkenden Infektionszahlen. Doch ist eine dritte Welle noch nicht abgewendet. Gerade wurde die brasilianische Variante erstmals nachgewiesen. Noch nie war die Pandemie so unvorhersehbar wie jetzt. Da muss doch jeder einsehen, dass das jetzt nicht der Zeitpunkt ist, um alle Schleusen zu öffnen. Deswegen: Erspart uns die unbegründeten Aussichten auf mögliche Lockerungen! Das einzige, was wir im Moment sicher wissen, das ist, dass wir nichts wissen.
"Hat für die abendliche Sperrstunde das letzte Stündlein geschlagen?", fragt sich derweil De Morgen. In den Niederlanden hatte ja gestern ein Gericht die nächtliche Ausgangssperre für illegal erklärt. Im Eilverfahren war dieses Urteil später vorläufig wieder aufgehoben worden. Dennoch hat das auch in Belgien die Debatte über die nächtliche Ausgangssperre wieder neu angefacht.
Wo bleibt der Sinn für Verhältnismäßigkeit?
Aber nicht nur diese Geschichte sorgt für Diskussionen über die Corona-Regeln. Viele Leitartikler beschäftigen sich heute mit Auftreten der Polizei und der Justiz von Antwerpen. Am Wochenende hatten die Ordnungskräfte in Kapellen eine Lockdown-Party aufgelöst. Sieben Minderjährige waren festgenommen worden: zwei 15-Jährige und fünf 14-Jährige. Sie mussten eine Nacht in Polizeigewahrsam bleiben, wurden durchsucht, verhört und im Eilverfahren zu Arbeitsstrafen verurteilt.
Wenn man von einer solchen Behandlung liest, dann denkt man erst an eine Drogengeschichte oder mindestens an Wiederholungstäter, die zum x-ten Mal bei einer Lockdown-Party erwischt wurden. Aber, nein, das scheint in Antwerpen der "normale" Umgang zu sein, kann Gazet van Antwerpen nur feststellen. Natürlich haben die Jugendlichen gegen Regeln verstoßen: Zu siebt ein Bier zu trinken, das ist in diesen Corona-Zeiten nun mal nicht erlaubt. Und die Polizei- und Justizbehörden haben anscheinend auch die Prozeduren strikt eingehalten. Das ist alles gut und wohl, aber bei alledem gibt es doch hoffentlich auch noch den gesunden Menschenverstand und den Sinn für Verhältnismäßigkeit. Es hätte doch auch gereicht, wenn man die Minderjährigen nicht gleich verhört und eingesperrt hätte.
Mit zweierlei Maß gemessen
"Wo liegt die Grenze zwischen einem strengen Auftreten und einem zu strengen Auftreten?", fragt sich auch Het Nieuwsblad. Natürlich sind die Regeln da, um sie einzuhalten. Natürlich muss die Polizei auch notfalls streng gegen diejenigen vorgehen, die sich nicht an die Regeln halten. Auf die Gefahr hin nämlich, dass die Regeln ansonsten ausgehöhlt würden. Ein Gefühl von Straffreiheit würde auch die allgemeine Akzeptanz untergraben. Deswegen dürfen sich die Jugendlichen aus Kapellen und ihre Eltern denn auch nicht wundern. Das allerdings ist die Theorie. In der Praxis sieht das anders aus. Angefangen bei der Frage der Gleichbehandlung: Wer aus einer roten Zone zurückkehrt und sich nicht an die Quarantäne-Bestimmungen hält, bei dem ist das Risiko äußerst gering, dass er dafür belangt wird. Nicht jeder Belgier ist also gleich vor den Corona-Gesetzen. Und das ist ein Problem.
Het Laatste Nieuws sieht das genauso. Wir erinnern uns an die Sex-Party mitten im Lockdown, bei der unter anderem ein ungarischer EU-Parlamentarier erwischt worden war. Der hing nackt wie Gott ihn schuf am Fallrohr. Die Polizei verdonnerte ihn zu einer Geldbuße, las ihm die Leviten, fuhr ihn dann aber hilfsbereit nach Hause. Von den Teilnehmern an der Lockdown-Orgie musste niemand eine Nacht in einer Arrestzelle zubringen und ein Verhör über sich ergehen lassen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.
Ein Pandemie-Gesetz ist nötig
Dass sich die Polizei und die Justiz offenbar strikt an die Regeln gehalten haben, das mag sein. Das heißt aber nicht automatisch, dass diese Regeln dafür auch gut sind, meint auch De Morgen. Eine Debatte über die Corona-Einschränkungen und den repressiven Umgang damit ist längst überfällig. Die Politik scheint es damit aber nicht eilig zu haben. Der seit langem versprochene Entwurf eines Pandemie-Gesetzes liegt jedenfalls immer noch nicht vor. Wegen der tiefgreifenden Beschneidungen der Grundrechte und -freiheiten ist ein kritischer Blick auf die übertriebene Wahrung der öffentlichen Ordnung mehr als nötig. Die muss dahin, wo sie hingehört, nämlich an die Leine des Rechtsstaates.
Das alles zeigt einmal mehr, wie nötig ein Pandemie-Gesetz ist, ist auch De Tijd überzeugt. Natürlich ist es ein heikles Gleichgewicht, das es da zu suchen gilt, muss man doch die Wahrung der Grundrechte und den Schutz der Bevölkerung unter einen Hut bringen. Dennoch braucht man zumindest einen Rahmen, der deutliche Grenzen zieht zwischen dem, was verhältnismäßig ist und was nicht. Ein Pandemie-Gesetz ist nötig. Nicht, weil es einfach ist, sondern weil es kompliziert ist.
Roger Pint