"Ein neuer Lockdown ist vorläufig vom Tisch", titelt De Morgen. Das zumindest hat Premierminister Alexander De Croo gestern in der Kammer durchblicken lassen. La Libre Belgique druckt die entsprechenden Begründungen noch einmal auf ihrer Titelseite ab: "Wir müssen konstant bleiben und dürfen nicht ständig die Strategie wechseln".
Vertreter aller Regierungen des Landes waren am Abend verfrüht zu einem Konzertierungsausschuss zusammengekommen, um über die Lage zu beraten. Trotz der katastrophalen Zahlen stand also erstmal kein neuer Lockdown zur Debatte. Worum es stattdessen ging, das steht auf Seite eins von De Standaard: "Die Regierung De Croo und die Teilstaaten ringen um die Sport- und Kulturwelt. "Für den Sport und die Kultur wird es eng", glaubt Le Soir. Andere Blätter greifen vor: "Kein Publikum mehr bei Sportveranstaltungen", titelt Het Laatste Nieuws. "Fußball ohne Publikum", notiert kurz und knapp Het Nieuwsblad.
"Das Coronavirus schlägt blind zu"
Währenddessen spitzt sich die Lage in den Krankenhäusern immer weiter zu. "Die Wallonie liegt wieder auf der Intensivstation", titelt L'Avenir. "Krankenhäuser streichen ab Montag wieder nicht dringende Behandlungen", schreibt Het Belang van Limburg auf Seite eins.
La Dernière Heure bringt auf ihrer Titelseite ein Foto von Sophie Wilmès. Die Ex-Premierministerin liegt wegen Covid auf der Intensivstation. "Niemand ist vor dem Virus sicher", so die Schlagzeile.
Das ist auch die Quintessenz des Leitartikels von La Dernière Heure. Das Coronavirus schlägt blind zu. Ob man nun mächtig ist oder arm wie Hiob, niemand kann sich sicher fühlen. Und jeder Einzelnen dürfte das genauso empfinden. Wir alle kennen Freunde, Bekannte, Kollegen, die positiv getestet wurden oder in Quarantäne sitzen. Sollte der Konzertierungsausschuss strengere Maßnahmen verhängen, dann wären wir gut beraten, dies zu akzeptieren.
Wir sollten unser Schicksal selbst in die Hand nehmen
"Ausgerechnet Sophie Wilmès", meint auch La Libre Belgique. Die 45-Jährige war monatelang das Gesicht des Kampfs gegen das Coronavirus. Und jetzt hat es auch sie erwischt. Jetzt steht sie in gewisser Weise stellvertretend für die Lage in den Krankenhäusern, die in einigen Regionen an ihre Grenzen stoßen. Währenddessen verbreiten irgendwelche Spinner immer noch ihre ebenso lächerlichen wie gefährlichen Theorien, die die Krise relativieren, kleinreden, manchmal sogar als eine Erfindung darstellen. Schluss damit! Die Gefahr ist real. Und sie ist tödlich. Wer die Regeln missachtet, der verhält sich wie ein Pyromane, der vor den Augen der Feuerwehr mit Streichhölzern spielt.
Le Soir schlägt in dieselbe Kerbe. "Sophie Wilmès auf der Intensivstation", diese Meldung war ein Schock. Die Frau, die monatelang tapfer dem Virus die Stirn geboten hat, sie wurde nun ebenfalls getroffen. Das gibt der Krise plötzlich eine sehr menschliche Dimension. Egal, was der Konzertierungsausschuss letztlich beschließen wird: Wie wäre es, wenn Sie und ich, wenn wir alle ab heute in einen persönlichen Lockdown gehen? So würde die Logik mit einem Mal umgedreht. Wir sollten nicht mehr warten, bis man uns Regeln aufs Auge drückt, sondern selbst unser Schicksal in die Hand nehmen. Und das nicht erst in 14 Tagen, wenn die Katastrophe einmal da ist.
Wer ist bekloppt?
Das GrenzEcho sieht das ähnlich. Es wäre schlichtweg nicht korrekt, alles auf die Politik abschieben zu wollen. Natürlich war das politische Handeln in den letzten Wochen und Monaten eher durch Irrungen und Wirrungen geprägt; und das mag die Menschen zu Sorglosigkeit und Ungläubigkeit verleitet haben. Wir haben es aber alle in der Hand. Es empfiehlt sich die berühmte Kennedy-Frage: "Was kann ich für mein Land tun?".
"Das Ganze ist unserer Sache", meint auch L'Avenir. Wenn die Politik keine strengeren Maßnahmen ergreift, dann wohl auch, weil sie spürt, dass die Akzeptanz fehlt. Neue, einschränkende Regeln könnten die Verzweiflung, die Mutlosigkeit noch verstärken. Am dringendsten wäre ohnehin, erstmal die Menschen wieder dazu zu bringen, die Goldenen Regeln einzuhalten. Denn wir alle sind hier gefragt.
Het Belang van Limburg sieht hier aber Bewegung. Strengere Maßnahmen scheinen in der Luft zu liegen. Selbst der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez plädierte zuletzt für eine entschlossenere Gangart, nachdem er noch am Wochenende gegen die Schließung der Restaurants gestänkert hatte. Die Kritik an neuen Einschränkungen scheint abzuebben; wir sind nicht mehr wütend auf diejenigen, die für strengere Maßnahmen plädieren; denn die Angst ist zurück.
"Es wird aber auch Zeit", scheint Gazet van Antwerpen einzuhaken. Ist uns immer noch nicht klar, wie ernst die Lage ist? In Deutschland wurde gestern ein Rekord eingestellt: Über 11.000 Neuansteckungen an einem Tag. Genauso viel wie bei uns also; nur hat Deutschland acht Mal mehr Einwohner. In der Bundesrepublik beläuft sich der Prozentsatz positiver Tests auf 3,6; in Lüttich sind es 28 Prozent. In Deutschland wird bei 270 Ansteckungen je 100.000 Einwohner ein lokaler Lockdown verhängt. Bei uns liegt diese Zahl stellenweise sieben Mal höher, manchmal zehnmal höher. Frage also: Sind die Deutschen bekloppt? Oder sind wir es?
Blinde Nabelschau
Het Laatste Nieuws schämt sich sogar, Belgier zu sein. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Die Virologen hatten uns gewarnt. Doch sie wurden als Unglückspropheten an den Pranger gestellt. Fehleinschätzungen der Politik, Streit unter Gesundheitsexperten, die Struktur des Landes, allzu nachlässige Bürger, das Versagen ist kollektiv. Man will am liebsten verschweigen, wo man herkommt. "Ich komme aus Belgien, wo schon wieder nicht dringende Behandlungen ausgesetzt werden müssen". "Ich komme aus Belgien, dem Land, wo man überall leckeres Bier, Fritten und Schokolade bekommen kann. Und Corona".
Wir haben nur noch eine Chance, meint Het Nieuwsblad: Wir müssen jetzt wirklich an einem Strang ziehen. Premier De Croo hat recht: Jeder, wirklich jeder, muss jetzt zu den getroffenen Entscheidungen stehen. Also nicht wie die N-VA auf der einen Seite die Entscheidungen mittreffen, und diese dann postwendend öffentlich kritisieren, wie es Bart De Wever getan hat. Das schafft Verwirrung. Und das können wir uns nicht mehr leisten. Gleiches gilt für die betroffenen Sektoren: Der Katzenjammer über die beschlossenen Einschränkungen und die Suche nach rechtlichen Hintertürchen, all das muss aufhören. Wer noch Zweifel hat an der Notwendigkeit neuer Maßnahmen, der sollte sich mal eine Covid-Station anschauen, etwa in Lüttich. Vielleicht hilft das auch gegen eine andere Krankheit, die derzeit grassiert: blinde Nabelschau.
Roger Pint