"Experten schließen Lockdown nicht mehr aus", schreibt De Morgen auf Seite eins. "Werden die nicht-essentiellen Geschäfte das nächste Opfer strengerer Maßnahmen?", so La Libre Belgique. "Ist ein neuer Lockdown noch zu vermeiden?", fragt De Standaard.
Die politisch Verantwortlichen haben keine Wahl, stellt Le Soir fest. Die aktuellen Corona-Zahlen lassen befürchten, dass in der ersten Novemberwoche die Bilder von Patienten, die in überfüllten Krankenhausfluren liegen oder die eiligst ins Ausland transferiert werden müssen, dieses Mal aus Belgien kommen werden.
Es ist ein furchtbares Dilemma für Premier De Croo und Gesundheitsminister Vandenbroucke, die ja gerade mal seit zwei Wochen im Amt sind. Sollen sie zehn Tage warten, um zu sehen, ob die bereits getroffenen Maßnahmen Erfolge zeigen? Mit dem Risiko, die Kontrolle komplett zu verlieren? Oder sollen sie aufs Gaspedal treten und das Land in einen Quasi-Lockdown schicken, weil sie die Situation als zu katastrophal einschätzen? Mit dem Risiko die Wirtschaft, aber auch die Psyche der Menschen in ein tiefes Loch zu schicken?
Dass Belgien sich wieder in einer so schlechten Lage befindet, hat verschiedene Gründe: verspätete Entscheidungen, verpasste Warnsignale, institutionelle Probleme, Experten, die immer entwarnen wollen und anderes. Eines aber ist sicher: Die Bürger bezahlen den grausamen Preis, dass jahrelang zu wenig in das Menschliche und die Gesundheit investiert wurde. Das ist ein globales Versagen in ganz Westeuropa, und auch in Belgien.
Wieder "failed state"?
Während der Terrorwelle wurde Belgien im Ausland als "failed state", gescheiterter Staat wahrgenommen, erinnert La Dernière Heure. Vier Jahre später, beim Kampf gegen Corona, macht Belgien keine bessere Figur. Wie konnte es dazu kommen, dass ein reiches, gebildetes Land mit einem leistungsfähigen Gesundheitssystem in einer Situation landen konnte, wie man sie sonst aus Ländern der Dritten Welt kennt?
Der institutionellen Lasagne ist schon oft genug die Schuld gegeben worden. Manche Länder haben wegen Disziplin und Bürgersinn Erfolg. In anderen sorgt die Angst vor der Obrigkeit dafür. Bei uns gibt es weder das Eine noch das Andere. Eigentlich simple Vorgänge wie Testen oder Nachverfolgen enthüllen jeden Tag wie ineffizient die Behörden sind. Und das führt manchmal zu einer Null-Bock-Einstellung bei den Menschen.
Die Politik in der Verantwortung
Belgien gehört wieder zu den am schlimmsten getroffenen Ländern. Im März spielte noch Pech eine Rolle, neben der katastrophalen Entscheidung, den strategischen Maskenvorrat zu vernichten, meint De Standaard. Für das, was uns jetzt zustößt, müssen wir auf die eigene politische Klasse schauen. Die neue Regierung wird am Freitag vor der schweren Entscheidung stehen, ob sie das Land in eine Art Lockdown schicken soll.
Dass die Corona-Kurven nach oben gehen, ist die vorhergesagte Folge der Wiederöffnung der Schulen und Universitäten, gepaart mit weiteren Lockerungen. Die Bevölkerung hatte kollektiv den Eindruck, dass man es nicht mehr so streng nehmen musste. Zwei Wochen später gingen die Infektionskurven nach oben. Die Regierung wird am Freitag argumentieren, dass sie keine andere Wahl hat. Das Erschütternde ist, dass die Regierungen des Landes sich, trotz aller Macht, die sie haben, selbst in so eine Sackgasse manövriert haben.
Auch De Morgen geht die Politiker scharf an. Sie zeigen mit dem Finger auf die leichtsinnige Jugend, auf den traditionell belgischen Argwohn vor jeder Form von Autorität und auf anderssprachige Migranten in den Städten. Dabei befindet sich die Antwort direkt unter ihrer Nase: Nichts hat es dem Virus in Belgien wieder so leicht gemacht, wie ihre eigene Unfähigkeit. Die Politik hatte genug Zeit vor der zweiten Welle – aber sie hat sie nicht genutzt. Am Vorabend eines zweiten Lockdowns ist eines klar: Irgendwann, lieber früher als später, müssen die Verantwortlichen vor einem echten Untersuchungsausschuss Rechenschaft ablegen.
Geduld oder strenge Prävention
Müssen morgen deutlich strengere Maßnahmen getroffen werden, fragt Het Laatste Nieuws. Die Panik ist nachvollziehbar. Wir sollten aber vor allem einen kühlen Kopf bewahren. Maßnahmen zeigen erst nach zehn bis 14 Tagen Wirkung. Wenn dann klar wird, dass die Dosierung zu niedrig ist, dann müssen wir tatsächlich einen Gang höher schalten. Solange das nicht deutlich ist, müssen wir uns in Geduld üben – auch wenn das kontra-intuitiv ist.
Das sieht Gazet van Antwerpen wohl eher anders. Es ist merkwürdig, wie viel Uneinigkeit es gibt, obwohl sich das Virus eigentlich recht simpel verhält. Sobald die Kurve hochgeht, nehmen die Ansteckungen irgendwann exponentiell zu und beginnt das Gesundheitssystem unter der Belastung zu knacken. Und trotzdem gibt es diejenigen, die immer Lockerungen wollen, die gegen angebliche Panikmache sind, die an "dynamische Gleichgewichte" glauben. Wie schwer wir jetzt eingreifen müssen, ist eine furchtbar schwierige Frage. Wir dürfen in der Zukunft aber nicht die Fehler wiederholen, die zu den jetzigen steilen Kurven geführt haben. Ja, streng präventiv zu denken, wenn die Zahlen noch nicht alarmierend sind, ist undankbar und irritierend. Aber es ist der einzige Weg, um eine halbwegs sichere Stabilität zu erreichen und Schulen und Betriebe offen zu halten.
Auch Het Belang van Limburg fordert mehr politischen Mut. Egal, wie sehr die Menschen die Unheilsbotschaften satt haben, in Zukunft muss schneller, energischer und logischer eingegriffen werden.
Boris Schmidt