"Die Maßnahmen nicht zu verschärfen, das ist ein sträfliches Versäumnis", titelt Het Nieuwsblad. Das ist die Kernbotschaft eines Offenen Briefs, den die Vorsitzenden mehrerer Ärzteverbände veröffentlicht haben. Die Mediziner üben darin scharfe Kritik an den Beschlüssen des Nationalen Sicherheitsrats vom vergangenen Mittwoch. Während die Corona-Zahlen weiter stiegen, vermittele die Politik den Eindruck, dass die Beschränkungen gelockert werden könnten.
Het Laatste Nieuws bringt eine ähnliche Schlagzeile: "Bleiben Sie bitte vorsichtig!" Das sagen zehn Menschen, die eine Covid-Erkrankung direkt oder indirekt miterlebt haben, genauer gesagt vor allem Patienten und ihre Ärzte. Auch sie reagieren auf die letzte Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats und hätten sich eher eine Verschärfung der Corona-Maßregeln gewünscht.
Einige flämische Universitäten hatten am Donnerstag den Anfang gemacht, als sie ihre Studenten ausdrücklich dazu aufriefen, von den am Mittwoch beschlossenen Lockerungen Abstand zu nehmen und ihre Fünfer-Kontaktblase beizubehalten.
Ein gefährliches Spiel
Einige Zeitungen geben all diesen Kritikern Recht. Die Regierungen des Landes haben alles nur noch schlimmer gemacht, so etwa das unbarmherzige Urteil von Het Nieuwsblad. Als wäre die Verwirrung nicht schon groß genug, hat der Nationale Sicherheitsrat mit der undeutlichsten Pressekonferenz aller Zeiten das Chaos komplett gemacht.
Die Krönung kam am Donnerstag in der Kammer, als Premierministerin Sophie Wilmès nach den Lockerungen eindringlich davor warnte, dass sehr bald die Maßnahmen wieder verschärft werden könnten. Was denn jetzt? Da muss man sich jedenfalls nicht wundern, wenn jetzt die Menschen dazu aufgerufen werden, die neuen Regeln zu ignorieren. Das ist der Gipfel des Surrealismus: Ziviler Ungehorsam wird zur Bürgerpflicht.
Nach dem Nationalen Sicherheitsrat war das Befremden groß, kann auch Gazet van Antwerpen nur feststellen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Universitäten ihre Studenten dazu aufriefen, die neuen Regeln nicht zu befolgen. Hinzu kommt, dass die Einführung des lang erwarteten Corona-Barometers zunächst verschoben wurde. Die Politik will offensichtlich erst eingreifen, wenn die Lage wirklich gefährlich wird. Das ist ein gefährliches Spiel.
Kritiker – bewahrt einen kühlen Kopf!
Andere Zeitungen sind da nicht ganz so kritisch. "Was ist, bitteschön, schlecht daran, wenn die Regierungen des Landes dem Bürger mehr Verantwortung übertragen?", fragt sich etwa das GrenzEcho. Dass eine solche Philosophie in Frage gestellt wird, lässt tief blicken.
Wir haben uns kollektiv in einer Gesellschaft eingerichtet, in der die res publica, die "öffentliche Sache", weitestgehend an die Regierenden delegiert wurde. Demokratie lebt aber von der Teilnahme jedes einzelnen Bürgers an dieser öffentlichen Sache. Die Corona-Krise ist eigentlich eine gute Gelegenheit für jeden Bürger zu beweisen, wie ernst er seinen Beitrag zum Gemeinwohl nimmt.
L'Avenir hat einen ähnlichen Gedanken. Was muss man festhalten? Die Premierministerin hat an den gesunden Menschenverstand appelliert, in dem sie die sechs goldenen Regeln noch einmal in den Vordergrund gestellt hat. Jeder kann beziehungsweise muss seinen Beitrag leisten. Die Politik hat hier in jedem Fall ihre Verantwortung übernommen, was ja letztlich auch ihre ureigene Aufgabe ist.
Die Kritiker sollten jetzt bitte mal einen kühlen Kopf bewahren und das gilt insbesondere für die Gesundheitsexperten. Mit ihren Kassandra-Rufen machen sie die Verwirrung nur noch größer.
"Es gibt einen Verteilungsplan für Covid-Patienten", titelt derweil De Standaard. Demnach soll es so sein, dass bei einer zweiten Welle die Patienten schneller auf die Krankenhäuser des Landes verteilt werden sollen als bei der ersten Welle. So soll vermieden werden, dass das eine oder andere Krankenhaus vollläuft.
"Warum können auch gesunde, junge Menschen ernsthaft an Covid-19 erkranken?", diese Frage steht auf Seite eins von De Morgen. Und die Zeitung liefert auch gleich die Antwort: "Das Immunsystem und die Gene entscheiden, wie ernst sich das Coronavirus auswirkt".
Einige Zeitungen beschäftigen sich wieder mit den Bemühungen zur Bildung einer neuen Regierung. Das GrenzEcho spricht von einem Wettlauf gegen die Zeit.
Ehre, wem Ehre gebührt
La Libre Belgique ist ihrerseits schon beim Casting und präsentiert die "Short List der aussichtsreichsten Ministerkandidaten". Zu sehen ist eine kleine Auswahl: Sophie Wilmès, Koen Geens, Alexander De Croo, Kristof Calvo und Karine Lalieux.
"Jetzt mal langsam!", scheint da aber Het Laatste Nieuws zu bremsen. Die Vivaldi-Partner legen ein Höllentempo vor. Und das selbst gesteckte Ziel, bis zum 1. Oktober die Regierung auf die Beine zu stellen, das ist ebenso ehrgeizig wie ehrenhaft.
Dennoch: Ist das nicht falsch verstandener Ehrgeiz? Wäre es nicht besser, das Regierungsabkommen wirklich bis ins Detail auszuverhandeln, um Konflikte innerhalb der Koalition möglichst auszuschließen? Es wäre gefährlich, wenn allzu viele heiße Kartoffeln erst mal in Arbeitsgruppen geparkt würden. Die Gefahr ist groß, dass in einem solchen Fall die Atmosphäre schnell eisig wird.
De Standaard stellt sich die Frage, wer denn am Ende Premierminister wird. Paul Magnette? Alexander De Croo? Oder doch jemand anderes? In jedem Fall sollte es ein Flame sein, empfiehlt die Zeitung. Dies aus dem einfachen Grund, dass diese Vivaldi-Koalition in Flandern keine Mehrheit hat. Dieses Defizit würde durch einen flämischen Premier symbolisch ausgeglichen. Umgekehrt würde ein frankophoner Premier in Flandern das Legitimitätsproblem noch vergrößern.
La Libre Belgique will ihrerseits nur mal Danke sagen. Nach den Irrungen und Wirrungen der letzten Monate scheint nun endlich die Zielgerade erreicht zu sein. Drei Personen müssen da gewürdigt werden: Zunächst der OpenVLD-Vorsitzende Egbert Lachaert, der Vivaldi erst auf die Schienen gesetzt hat. Dann Sophie Wilmès, die Ruhe in die Runde gebracht hat; man darf sie eine Staatsfrau nennen. Und schließlich der König, der schnell und zugleich besonnen agiert und reagiert. Natürlich gibt es auch noch viele Menschen, die im Hintergrund gearbeitet haben, aber insbesondere diese drei Personen verdienen ein Dankeschön.
Roger Pint