"Politische Krise – Endlich ist das Ende des Tunnels in Sicht", schreibt L'Avenir auf Seite eins. "Vivaldi-Koalition jetzt wirklich in den Steigbügeln – In zwei Wochen muss die neue Regierung stehen", titelt Gazet van Antwerpen. "Lachaert und Rousseau gehen auf die Suche nach einem Premier", so die Überschrift bei Het Laatste Nieuws.
Durch die Ernennung der OpenVLD- und SP.A-Vorsitzenden Egbert Lachaert und Conner Rousseau zu Vorregierungsbildnern ist die Regierungskoalition aus Liberalen, Sozialisten, Grünen und der CD&V in greifbarere Nähe gerückt. Für Champagner ist es aber noch etwas zu früh, hält De Morgen fest. Vivaldi hat zwar abgehoben, ist aber noch nicht gelandet. Inhaltlich bleibt noch viel zu diskutieren. Über wichtige Themen wie Haushalt, Steuerpolitik und Renten muss noch verhandelt werden. Über die Staatsreform ist auch noch kaum gesprochen worden. Bei der Reform des Abtreibungsgesetzes hat man beschlossen, vorerst nichts zu beschließen, gleiches gilt für die Schließung der Atomkraftwerke. Und auch beim Casting des Premierministers steht ein großes Fragezeichen.
Der Einsatz für Vivaldi ist jedenfalls enorm. Seit den Wahlen ist immer deutlicher geworden, wie sehr die traditionellen politischen Familien beim Wähler an Anziehungskraft verloren haben. Vivaldi bietet diesen Parteien die Chance, ihre zersplitterten Kräfte mit denen der Grünen zu bündeln - in der Hoffnung, diesen Trend noch umkehren zu können. Das kann funktionieren, es kann aber auch schief gehen. Dann ist der Weg 2024 frei für die radikalen Parteien. Und Vivaldi ginge in die Geschichtsbücher ein als die letzte Regierung eines vergangenen Zeitalters, warnt De Morgen.
Schöne Worte, aber wenig Substanz
Het Belang van Limburg vermisst Substanz bei den Ankündigungen von Egbert Lachaert. Wenn man es genau betrachtet, scheint vor allem ein Konsens darüber zu bestehen, dass es einen Konsens gibt. Alle ethischen und ideologischen wunden Punkte sind fachkundig umschifft worden. Es bleibt ein vager Brei. Dennoch muss man den Vorregierungsbildnern den Vorteil des Zweifels gönnen. Auch weil es sonst nicht wirklich Alternativen gibt. Deshalb: Avanti, vorwärts!, wünscht sich Het Belang van Limburg.
"Mut", "Hoffnung", "Perspektive" - schöne Worte von Egbert Lachaert. Aber es ist noch ein langer Weg, um sie mit Bedeutung zu füllen, meint Het Nieuwsblad. Den Mut, den muss man den sieben Parteien wirklich zugestehen. Es wäre natürlich noch mutiger gewesen, wenn das viel früher passiert wäre. Aber politischen Mut findet man nun mal vor allem dann, wenn einem das Messer an der Kehle sitzt. "Hoffnung" und "Perspektive" will die Koalition geben. Das bleibt vorläufig aber noch mehr Wunsch als Wirklichkeit. Nur weil die komplette Verzweiflung gerade noch abgewendet worden ist, bedeutet das noch lange nicht, dass es auch Hoffnung gibt – von einer echten Perspektive ganz zu schweigen.
Die wichtigste Herausforderung wird aber sein, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zurückzugewinnen. Das ist, gerade in den vergangenen Corona-Monaten, immer weiter in den Keller gegangen. Jetzt braucht es vor allem gutes Management. Und das ist schwieriger, als es klingt. Aber genau daran wird sich die Regierung in spe als erstes messen lassen müssen, ist Het Nieuwsblad überzeugt.
"Zum Erfolg verdammt"
La Libre Belgique glaubt, einen Hauch von Optimismus in der Rue de la Loi zu spüren. Das gab es seit den Wahlen im Mai 2019 nicht mehr. Auch wenn noch nichts in trockenen Tüchern ist, scheint die Atmosphäre gelassen und positiv zu sein. Und die drei Elemente, die für eine Regierungsvereinbarung unabdingbar sind, sind endlich da: der Wille, das Vertrauen und der Respekt. Werden die Partner es schaffen? Es gibt jedenfalls keinen Plan B. Scheitern darf also keine Option sein. Und sie dürfen keine Fehler machen, mahnt La Libre Belgique.
Auch für Le Soir sind die sieben Parteien zum Erfolg verdammt. Das Land für die Zukunft stärken, jedem in diesem Land ein besseres Leben ermöglichen - man kann die Ankündigungen von Egbert Lachaert nur begrüßen. Gerade nach der beispiellosen politischen Lähmung und den zahllosen gescheiterten Verhandlungen. Sind die Pläne der Sieben zu hochmütig, zu ehrgeizig, zu naiv oder zu opportunistisch? Nein. Ein Versagen dieser Regierung würde nämlich der N-VA und dem Vlaams Belang die Schlüssel für das Land auf dem Silbertablett servieren. Das bedeutet, dass es für die sieben Parteivorsitzenden wichtiger denn je ist, ihre Egos hintenanzustellen.
Um jeden Preis muss vermieden werden, dass sich die Parteien beim Gerangel um den Posten des Premierministers gegenseitig zerfleischen. Ihnen ist unerwarteterweise die Chance in den Schoss gefallen, zu bestimmen, welche Art von Politik sie machen wollen und zu zeigen, dass die Spaltung des Landes nicht unausweichlich ist. Sie haben die Chance, die Kontrolle über die Effizienz des Staates zurückzugewinnen, indem sie eine Staatsreform in Angriff nehmen, die nicht auf separatistische Ziele zugeschnitten ist. Es bringt jetzt nichts, Tränen über die verschwendete Zeit zu vergießen. Es ist an der Zeit, Format zu zeigen und seine Verantwortung zu übernehmen, fordert Le Soir.
Die Frage des Wählerwillens
La Dernière Heure kommentiert den Vorwurf, dass bei dieser neuen Regierung der Wählerwille, zumindest im Norden des Landes, nicht respektiert würde. Das stimmt zwar, war bei der letzten Regierung aber für den Süden auch nicht anders. Natürlich kann man sich die Frage stellen, warum man dann überhaupt noch wählen gehen soll. Und diese Frage ist legitim. Sie ignoriert allerdings die Tatsache, dass zwischen den Wahlen und jetzt die Coronakrise über das Land hinweggefegt ist. In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ist Belgien zerbrechlicher als je zuvor. Die Bürger brauchen konkrete Lösungen für diese Probleme. Wenn sie die bekommen, sind sie vielleicht bereit, darüber hinwegzusehen, dass ihr Wählerwille nicht respektiert wird. Aber nur dann, wenn wir dieses Mal endlich aufhören, uns im Kreis zu drehen, warnt La Dernière Heure.
Boris Schmidt