"Kommunikation von Sciensano im Kreuzfeuer", titelt das GrenzEcho. "Warum das Contact tracing total schiefläuft - 'Corona-Detektive fragen zu wenige Informationen ab, Daten werden nicht durchgegeben'", schreibt De Morgen auf Seite eins. "Ferien-Effekt macht Nachverfolgung örtlicher Ausbrüche sehr schwierig", so die Überschrift bei Het Laatste Nieuws.
Spätestens seitdem die Coronavirus-Neuinfektionen wieder steigen, gibt es heftige Diskussionen über die Art und Weise wie das Institut für Volksgesundheit die Zahlen kommuniziert und vor allem auch über die Langsamkeit und andere Probleme bei der Kontaktnachverfolgung.
Experten, Gouverneure und Bürgermeister rufen im Chor, dass es so nicht weiter gehen kann, hält Gazet van Antwerpen fest. Wir wissen zwar, in welchen Gemeinden die Infektionen stattfinden, aber nicht genau wo. Dadurch fehlen uns auch Informationen über Cluster, die sich ausdehnen können. Auch die Kontaktnachverfolgung lahmt: Nur 60 von 100 Infizierten werden überhaupt angerufen, davon rückt die Hälfte nicht mit Informationen über ihre Kontakte heraus. Außerdem bohren die Contact Tracer nicht tief genug nach, vor allem aus Datenschutzgründen. Und schließlich dürfen einige Daten, die sie sehr wohl erheben, so wie die Adresse, nicht weitergegeben werden.
Der Schutz der Privatsphäre wird oft als Stolperstein genannt, allerdings haben bereits verschiedene Experten erklärt, dass juristisch betrachtet eine Abwägung der Privatsphäre gegen Belange der Volksgesundheit perfekt möglich wäre. Aber wer ist eigentlich endverantwortlich? Bei der Suche nach dieser Antwort kommt wieder ein typisch belgisches Knäuel heraus. An der Spitze die Premierministerin und, im weiteren Sinne, der Nationale Sicherheitsrat. Wenn andere Initiativen zur Lösung der Probleme ausbleiben, muss von hier aus eingegriffen werden, fordert Gazet van Antwerpen.
Verantwortungsbewusstsein bei Behörden gefragt
Als Bürger können wir nur große Augen machen, wie es möglich ist, dass, obwohl fast alle Politiker mehr Daten fordern, diese nicht auf den Tisch gelegt werden, meint Het Laatste Nieuws. Und bei dem Kuddelmuddel, das Belgien ist, scheint niemand zu wissen, auf welchen Knopf man drücken muss, um das Problem zu lösen. Nach der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats rief die Premierministerin zu mehr Bürgersinn auf.
Das ist legitim, aber die Mehrheit der Bürger tut schon, was sie kann. Im Austausch erwarten die Menschen aber, dass in den Bereichen, auf die sie selbst keinen Einfluss haben, auch etwas unternommen wird. Wenn das Verantwortungsgefühl bei manchen Behörden so ausgeprägt wäre wie bei den Bürgern, würden die verlangten detaillierteren Infektionsdaten schon längst verfügbar sein, ärgert sich Het Laatste Nieuws.
Auch an die eigene Nase fassen
"Eine Taube wäre schneller als unsere Tracer", spottet De Morgen in ihrem Leitartikel. Zwei geschlagene Tage dauert es, bis die Telefonnummer eines Hochrisikokontaktes von Tracer eins zu Tracer zwei weitergeben wird. Und wenn die Nummer endlich angekommen ist, ist sie oft auch noch falsch. Und dann passiert… oft gar nix. Callcenter mögen dazu taugen, um Menschen Waschmaschinen anzudrehen. Oder Wahlabsichten abzufragen. Aber wenn man Bürgern Informationen entlocken will, die sie lieber für sich behalten würden, dann braucht man einen anderen Schlag Menschen, giftet De Morgen.
De Standaard sieht die Schuld aber auch teilweise bei den Bürgern. Dass die Menschen ihre sozialen Kontakte immer weniger einschränken, macht die Arbeit der Tracer schwieriger. Und dass Infizierte dann ungenügende Informationen über ihre Kontaktpersonen liefern, hat nicht nur mit mangelndem Vertrauen zu tun. Sondern auch damit, dass sie anderen keine zweiwöchige Quarantäne aufhalsen wollen. Über die Behörden schimpfen reicht nicht, wir müssen uns in puncto Bürgersinn auch an die eigene Nase fassen, wünscht sich De Standaard.
Eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt
Heute beginnt in Brüssel der Sondergipfel über den EU-Haushalt und den Corona-Wiederaufbaufonds. Während der Pandemie hat die Europäische Union versagt, schreibt La Libre Belgique in ihrem Kommentar. Das kollektive Versagen kann man zum Teil der EU-Kommission anlasten, aber vor allem den Mitgliedsstaaten. Obwohl man die Katastrophe kommen sehen konnte, mangelte es dann an Solidarität, Koordination und Organisation. Es ist die schlimmste Krise seit Langem und ihr wahres wirtschaftliches Ausmaß und Folgen sind noch unbekannt. Dieses Mal kann sich die Europäische Union keine Fehler mehr erlauben, sie muss die Auswirkungen des Wirtschaftsschocks abfedern und den Neustart so gestalten, dass die fragilsten Staaten und der Zusammenhalt zwischen den Mitgliedsländern gestärkt werden, ist La Libre Belgique überzeugt.
Auch L'Avenir wünscht sich, dass die Union wieder einen europäischen Geist findet, der beweist, dass sie es Wert ist, aus der Asche der Corona-Krise aufzuerstehen. Und es geht hier nicht nur um wirtschaftliche Argumente. Sondern auch um die Rolle der EU als Solidaritäts-, Menschlichkeits- und Friedensbringer. Das Vorhaben wird nicht einfach. Aber eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt, erinnert L'Avenir.
Boris Schmidt