"Neue Lockerungen oder nicht? Schlechte Zahlen spalten den Nationalen Sicherheitsrat", titelt Het Nieuwsblad. Gazet van Antwerpen ist noch deutlicher: "Neue Lockerungen sind fraglich geworden", schreibt das Blatt auf Seite eins.
Heute tritt erneut der Nationale Sicherheitsrat zusammen. Die Vertreter aller Regierungen des Landes werden dabei die aktuelle Lage bewerten. Auf dieser Grundlage wird dann entschieden, ob die geplanten weiteren Lockerungen umgesetzt, bzw. ob neue beschlossen werden können. Nur ist in der Zwischenzeit die Zahl der Neuinfektionen spürbar angestiegen. "Und wenn das so weitergeht, dann werden sogar die schon geplanten Lockerungen nicht umgesetzt", sagt Gesundheitsministerin Maggie De Block auf Seite eins von Het Laatste Nieuws. Le Soir hingegen sieht das nicht so dramatisch: "Die Zahl der Neuinfektionen steigt, aber es gibt keinen Grund zu Panik", schreibt das Blatt.
"Corona-Kakophonie"
Angesichts dieser trüben Aussichten, vor allem aber wegen des Kommunikationschaos' der letzten Tage, üben einige Leitartikler scharfe Kritik an der Politik.
Das Virus macht keinen Urlaub, die Zahlen steigen wieder, kann etwa La Libre Belgique nur feststellen. Das ist ein Alarmsignal. Da gibt es nur eins: Wir brauchen mehr denn je strikte Regeln, um diese Entwicklung zu stoppen. Hier gibt es zwei Störfaktoren. Erstens das unverantwortliche, fast kriminelle Verhalten von einigen Unbelehrbaren, die sich über alle Regeln hinwegsetzen. Das zweite Problem ist der Mangel an klaren Richtlinien. Die Politik hat vor allem in den letzten Tagen einen Schleuderkurs hingelegt. Beispiel Urlaubsrückkehrer: Die Vorgaben in Bezug auf die Reise-Ampel wurden allein gestern zwei Mal verändert. So kann es nicht weitergehen!
La Dernière Heure spricht von der Corona-Kakophonie. Angesichts wieder steigender Zahlen ist jetzt mehr denn je klare und deutliche Kommunikation gefragt. In den letzten Tagen haben wir aber das Gegenteil gesehen. Meine Damen und Herren von Sciensano, des Außenministeriums, der verschiedenen Regierungen des Landes: Die Belgier haben die Nase voll! Sie sind es leid, Misstöne oder sich widersprechende Informationen zu hören! Wenn man eine Epidemie erfolgreich bekämpfen will, dann sind zwei Faktoren von zentraler Bedeutung: Klarheit und Rückhalt in der Bevölkerung. Die Klarheit ist schon futsch, den Rückhalt sollte man jetzt nicht auch noch verlieren.
"Eine zweite Welle wäre die Schuld der Politiker"
Die Politik bekommt im Moment quasi reihenweise schlechte Zeugnisse ausgestellt. Im Corona-Sonderausschuss des flämischen Parlaments fällten Virologen ein vernichtendes Urteil. Es fehle ein Kapitän auf der Brücke, waren sich die Gesundheitsexperten einig; und sie fügten hinzu: "Wenn es eine zweite Welle gibt, dann ist das einzig die Schuld der Politik".
Die Experten haben die Politiker regelrecht durchfallen lassen, meint Gazet van Antwerpen. Schlimmer noch: Selbst eine zweite Chance wollen die Virologen den politisch Verantwortlichen nicht geben. Ihrer Ansicht nach sollten künftig gar keine Politiker mehr im Cockpit sitzen, wenn's um die Bekämpfung einer Epidemie geht. Es ist wohl lange her, dass man der Politik derartig den Kopf gewaschen hat. Der eine oder andere mag den Virologen vielleicht Anmaßung oder Selbstüberschätzung bescheinigen. Doch könnte die Politik ja auch zur Abwechslung mal durch entschlossenes Handeln die Vorwürfe widerlegen.
"Humanitäre Krise in den Seniorenheimen"
Ein weiteres, ebenso desaströses Zeugnis gab es von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Die Quintessenz steht auf einigen Titelseiten: "Eine humanitäre Krise in den Altenheimen", so etwa die Schlagzeile von L'Avenir. Ganz ähnlich schreibt das GrenzEcho: "Situation in Heimen ist eine humanitäre Krise". Ärzte ohne Grenzen war während der Corona-Krise auch in Alten- und Pflegeheimen in Belgien aktiv. Was die Mitarbeiter da gesehen haben, all diese Erlebnisse wurden jetzt in einem Bericht zusammengefasst. Das Fazit ist desaströs: Die Lage war vielerorts einfach nur katastrophal. Und das hat auch bei den Bewohnern Spuren hinterlassen: "Mehr Senioren denken über Sterbehilfe nach", schreiben De Morgen und Het Laatste Nieuws auf Seite eins.
Der MSF-Bericht zeichnet ein furchtbares Bild, meint auch De Morgen. Es war eine Katastrophe, noch dazu mit nachhaltigen Folgen: Bei neun von zehn Altenheimbewohnern hat sich der psychische Zustand verschlechtert. Und viele Mitarbeiter leiden unter enormen Schuldgefühlen. Dabei waren sie ja nicht dafür verantwortlich, dass es an allen Ecken und Enden an Mitteln fehlte. Die Schuldigen für dieses Desaster müssen unbedingt ermittelt werden.
"Die Senioren wurden regelrecht im Stich gelassen", urteilt auch L'Avenir. Italienische Bilder wollte man verhindern; deswegen hat man sich ausschließlich auf die Krankenhäuser konzentriert. Mit Erfolg. Doch wirft das Drama, dass sich zeitgleich in den Altenheimen abgespielt hat, einen riesigen Schatten auf diese Bilanz. 6.200 Menschen sind in den Alten- und Pflegeeinrichtungen an Covid-19 gestorben. Hier wird man irgendwann die Schuldfrage beantworten müssen. Vor allem aber muss man den Mitarbeitern und Bewohnern dabei helfen, diesen Albtraum zu verarbeiten.
Ob in Flandern, in Brüssel oder in der Wallonie: Die Bilder und die Probleme waren überall die gleichen, konstatiert Het Belang van Limburg. Die bange Frage lautet jetzt: Haben wir aus den Fehlern gelernt? Oder wird sich die Geschichte bei einer zu befürchtenden zweiten Welle wiederholen? Jetzt erst recht stellt sich die Frage, was uns unsere Senioren wert sind.
"Guter Wille allein ist nicht genug!"
Der belgischen Politik wurde ein erbärmliches Zeugnis ausgestellt, meint auch das GrenzEcho. Die Experten ließen kein gutes Haar an den politisch Verantwortlichen, insbesondere im Zusammenhang mit der Krise in den Seniorenheimen. Und auch das Vertrauen in den Nationalen Sicherheitsrat hat nach den jüngsten Irrungen und Wirrungen arg gelitten. Gefragt ist jetzt echte politische Führung.
Guter Wille allein reicht jedenfalls nicht, glaubt Het Laatste Nieuws. Die Kritik der Virologen an der Politik war - in einem Wort - vernichtend. Grob zusammengefasst: Amateure sind es, diese Politiker, schwerhörig und unbelehrbar. Die Masken-Saga, die Kontaktpersonennachverfolgung, die Reise-Ampel: Man würde drüber lachen, wenn's nicht so traurig wäre. Klar: Das ist alles keine Absicht. In den Regierungen, Beraterstäben und Verwaltungen sitzen bestimmt viele Leute, die es nur gut gemeint haben. Das ist aber nicht genug. Nur effiziente Politik rettet Leben. Und daran mangelt es im Moment...
Roger Pint