"'Wir sind nicht bereit für eine zweite Welle'", bringen Het Laatste Nieuws und Gazet van Antwerpen ein Zitat auf Seite eins. "'Zweite Welle ist unvermeidlich'", liest man bei Het Nieuwsblad. Und De Standaard schreibt: "Belgien ist laut Experten nicht bereit für zweite Welle".
Diese Aussagen stammen aus einer Befragung der renommierten Gesundheitsexperten Marc Van Ranst, Erika Vlieghe und Herman Goossens in der Corona-Untersuchungskommission des flämischen Parlaments gestern.
"Wir brauchen ein einheitliches Kommando" – Experte nach Experte sagt in der Untersuchungskommission des flämischen Parlaments das Gleiche, stellt De Morgen fest. Die bittere Ironie: Sie werden es in der Kammer, in Brüssel und in der Französischen Gemeinschaft wiederholen. Alle werden das brav notieren und diese Einheit dann für sich beanspruchen. Das ewige Tauziehen zwischen den Ebenen ist ja das Problem. Alle tragen irgendwelche Verantwortungen, wissen aber in Krisenzeiten dann nicht, welche.
Wenn Belgien eine Lehre aus der Krise ziehen muss, dann, dass zu viel Zeit und Energie verloren gehen beim Herausfinden, wer wofür zuständig ist. Einheitliches Kommando bedeutet nicht zwangsläufig, dass einer alles entscheidet. Sondern, dass jeder klar weiß, wofür er zuständig ist und dass es eine politische Verantwortlichkeit gibt. Die schmerzhafte Lehre aus der Corona-Krise ist, dass ein halbes Jahrhundert Staatsreformen Belgien nicht effizienter, besser, billiger oder sicherer gemacht hat. Die Frage muss denn auch nicht lauten, welche Befugnisse aufgeteilt oder zurückübertragen werden sollen. Sondern: "Welche Strukturen schützen uns am besten?" anstatt "Welche passen gerade ins politische Programm?", meint De Morgen.
Der Rest muss sitzen
Het Nieuwsblad greift die Aussage auf, dass Belgien nicht bereit für eine zweite Welle sei. Die Zahlen steigen bereits wieder leicht. Und wenn sie morgen oder übermorgen durch die Decke gehen, ist das Schlimmste zu befürchten. Weil die Behörden längst nicht alle Lehren, die sie ziehen müssten, auch gezogen haben. Das Contact Tracing zum Beispiel, Herzstück der Exit-Strategie, läuft noch immer nicht rund. Bei der ersten Welle konnte man noch sagen, dass man überrumpelt worden ist. Für die zweite wird diese Entschuldigung nicht mehr ziehen, sie ist seit Monaten vorhergesagt.
Nicht umsonst sagte der Mikrobiologe Herman Goossens, dass es die Verantwortung der Politik sei, wenn es zu einem zweiten Lockdown komme. Die Idee eines einzigen Piloten im Cockpit ist mit der heutigen Staatsstruktur nicht drin. Und das in einigen Wochen ändern zu wollen, ist reine Fiktion. Auch die zweite Welle werden wir also mit Nationalem Sicherheitsrat, Konzertierungsausschüssen und interministeriellen Konferenzen überstehen müssen. Deshalb muss der Rest auch sitzen. Und die Zeit drängt, mahnt Het Nieuwsblad.
"Spät, zu spät oder schändlich zu spät"
Für Gazet van Antwerpen haben die Regierungen im Land auf drei Weisen auf das Virus reagiert: spät, zu spät oder schändlich zu spät. Das gilt für die Reisehinweise, die Masken-Pflicht, die Lieferung von Schutzmaterial für die Altenheime. Wenn die Behörden weiter so lahm reagieren, ist es nicht sicher, dass Belgien einer zweiten Welle entgehen kann.
Unsere Staatsstruktur ist viel zu komplex, um im Fall eines neuen Ausbruchs schnell etwas zu unternehmen. Bis die Politiker sich geeinigt haben, um das Problem anzugehen, ist vielleicht schon längst ein Impfstoff gefunden worden, giftet Gazet van Antwerpen.
"Stressig und absurd"
Het Laatste Nieuws kommentiert die Corona-Reisehinweise des Außenministeriums. Jeden Tag wird die Liste der Orte aktualisiert, in die man als Belgier besser nicht reisen sollte. Säuberlich in die Farben Rot, Orange und Grün aufgeteilt. Das Ziel: Verunsicherte beruhigen und Unvorsichtige warnen. Leider erzeugt die Liste ein falsches Gefühl der Sicherheit, weil die Einordnung auf relativen und willkürlichen Kriterien beruht. Letztlich ist es nicht das Reiseziel, das das Infektionsrisiko festlegt. Sondern das eigene Verhalten. Genauso sinnfrei ist die Unterscheidung zwischen essentiellen und nicht-essentiellen, Geschäfts- oder Urlaubsreisen. Als ob das Virus hier selektiv zuschlägt. Es wird mehr brauchen als Reiseverbote und Quarantänen. Aber das ist wohl zu viel verlangt von den politisch Verantwortlichen, meint Het Laatste Nieuws.
Auch La Libre Belgique kritisiert die Reisehinweise. Die Belgier sind bei der Wahl ihres Urlaubsziels aufgerufen, den gesunden Menschenverstand zu benutzen. Das gilt aber offenbar nicht für das Außenministerium. Das updatet seine Infografiken und Farbcodes anscheinend wann es will. Auf der Basis lokaler Statistiken, die dazu führen, dass Länder, die wie Luxemburg massiv testen, schnell hochgestuft werden können.
Das belgische Farbcode-System hat sich bereits als genauso stressig wie absurd erwiesen. Stressig, weil die Farben sich von einem Moment auf den anderen ändern können. Absurd, weil es auf Momentaufnahmen beruht. Eine wöchentliche Aktualisierung, die auf einer Sieben-Tage-Tendenz beruht, könnte zu einer klareren und pragmatischeren Kommunikation für Urlauber führen, glaubt La Libre Belgique.
Boris Schmidt