"Es gibt jetzt schon Zweifel über die Wiedereröffnung der Geschäfte", titelt leicht anklagend Het Nieuwsblad. "Die Ausweitung der Notbetreuung stellt die Wiedereröffnung der Schulen infrage", schreibt De Standaard. Es ist so: Wenn zu viele Kinder in die Schule müssen, weil ihre Eltern wieder arbeiten, dann gibt es keinen Platz für den "normalen Unterricht".
Zwei Schlagzeilen, die die Kritik an den Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates verdeutlichen, die das ganze Wochenende beherrscht hat. De Morgen bringt es im Innenteil auf den Punkt: "Kaum sind sie bekanntgegeben, werden die Lockerungen gleich wieder infrage gestellt".
"Premierministerin Sophie Wilmès kontert die Kritik", notiert aber das GrenzEcho. Sie erinnerte insbesondere daran, dass eigentlich von vornherein klar war, dass die Lockerungen an Bedingungen geknüpft sein würden; konkret müssen die Corona-Zahlen durchgehend im grünen Bereich bleiben. Daraus ergibt sich auch ein Kriterium, das Het Laatste Nieuws auf Seite eins hervorhebt: "Sieben Tage am Stück müssen sich die Zahlen verbessern. Anderenfalls werden die Geschäfte nicht geöffnet".
De Morgen ist da offensichtlich wenig optimistisch: "Warum wir nicht bereit sind für den Exit", schreibt das Blatt auf seiner Titelseite. Und dann kommt eine ganze Liste von Mängeln. Angefangen damit, dass die Regierung ihr Versprechen wohl nicht einlösen und allen Bürgern eine Maske zur Verfügung stellen kann.
"Ein Versprechen ohne Strategie", so nennt das kritisch Le Soir. "Das Chaos regiert rund um die versprochenen Gratis-Schutzmasken", giftet Het Belang van Limburg.
Exit aus dem Exit?
"Was wir hier sehen, das ist fast schon der Exit aus dem Exit", kritisiert Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Wird überhaupt irgendetwas wiedereröffnet? Diese Frage hat das Wochenende dominiert.
Zugegeben: Der Nationale Sicherheitsrat hatte durchaus betont, dass der Exit-Fahrplan an strikte Vorbedingungen geknüpft sei. Diese Botschaft ist aber untergegangen "dank" der langatmigen Pressekonferenz mit ihren unleserlichen Powerpoint-Slides.
Resultat jedenfalls: eine Mischung aus Enttäuschung, Unverständnis und Wut. Hinzu kommt: Es fehlen nach wie vor die Mittel, die den Exit möglich machen sollen, angefangen bei den Gesichtsmasken.
Fazit: Die Regierung wollte wohl zu viel Hoffnung geben. Die Hoffnungen der Bürger waren noch mal größer. Das konnte nur schiefgehen.
Es ist vor allem die Pressekonferenz an sich, an der sich viel Kritik entzündet. Nicht nur, dass die Präsentation des Exit-Fahrplans erst am späten Freitagabend um 22:00 Uhr begann. Sie war zudem wenig klar und zielführend, meint etwa Het Belang van Limburg.
Wenn man doch weiß, dass es eine lange Sitzung wird, warum fängt man denn nicht früher an? Und – trotz der Überlänge – sind viel zu viele Fragen offen geblieben. Zum Beispiel: Wie verhält es sich mit dem "Kontakt-Tracing"? Wird genug Personal zur Verfügung stehen, um, im Falle einer Corona-Infektion, die Menschen ausfindig zu machen, die mit dem Betreffenden Kontakt hatten? Anderes Beispiel: Werden wir Schutzmasken bekommen, oder müssen wir sie selber machen?
"Wo bleiben die Tracer und die Schutzmasken?", fragt auch vorwurfsvoll Gazet van Antwerpen. Es kann doch nicht sein, dass wir schon über eine Wiedereröffnung der Geschäfte und Schulen diskutieren, wenn diese Grundbedingungen noch nicht mal geklärt sind! Ist das wirklich so schwer? Die Form stimmte ja schon nicht! Wie ist es möglich, dass die politischen Entscheidungsträger einen solch dürftigen Auftritt zum Besten geben?
Es war ein kommunikatives Desaster, meint auch das GrenzEcho. Gerade in solch kritischen Zeiten und in solch ebenso wichtigen Fragen geht es nicht nur um das "Was", sondern auch um das "Wie". Und da haben Premierministerin Sophie Wilmès und die sie umgebenden Ministerpräsidenten der Regionen und Gemeinschaften ein schwaches Bild abgegeben.
Man wird den Eindruck nicht los, dass der Nationale Sicherheitsrat immer noch nicht verstanden hat, dass der vorgelegte Fahrplan nur ein Erfolg werden kann, wenn die Menschen überzeugt sind von dem, was sie tun sollen.
Musste es unbedingt "Entweder-Oder" sein?
Het Laatste Nieuws spricht sogar von einem "Crash". Genau in dem Moment, wo die Politik den Stab von den Virologen übernehmen sollten, konnten die, die noch aufgeblieben waren, live miterleben, wie eben dieser Stab auf den Boden fiel.
Die Maßnahmen gingen unter. Man sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Was aber vor allem fehlt, das sind klare Kriterien: Welche Schwellenwerte müssen erreicht sein, um die nächste Phase einleiten zu können?
Ab wann muss zurück gerudert werden? Fazit: Sophie Wilmès und Co. scheinen das ABC des Krisenmanagements und der Krisenkommunikation nicht zu beherrschen.
Inhaltlich sind leider die sozialen Kontakte ausgeblendet worden, beklagt De Morgen. Ein Familienmitglied zu besuchen, oder mit ein paar Freunden zu grillen, das wird nach wie vor nicht möglich sein.
Stattdessen wird sich voll und ganz auf das Wiederankurbeln des Wirtschaftsmotors konzentriert. Natürlich ist das von wesentlicher Bedeutung. Die Wirtschaft, das sind schließlich wir alle. Aber, musste das unbedingt eine "Entweder-Oder-Entscheidung" sein? Ein bisschen mehr mentale Luft zum Atmen hätte es durchaus sein dürfen.
"Die Politik ist vor der Wirtschaftslobby auf die Knie gegangen", glaubt La Dernière Heure. Ist es wirklich gefährlicher, einen Angehörigen oder einen Freund zu treffen, als in ein Geschäft zu gehen, dass mal eben, schnell-schnell, desinfiziert wurde? Da muss man sich nicht wundern, wenn viele die Beschlüsse als "unlogisch" empfinden.
Kein Raum für den belgischen Kompromiss
"Das war in der Natur der Sache", scheint aber La Libre Belgique zu erwidern. Es war klar, dass der Nationale Sicherheitsrat es nicht jedem recht machen konnte, dass inhaltliche Inkohärenzen nicht zu vermeiden waren.
Die Alternative wäre schlimmer gewesen, nämlich: alle Schleusen gleichzeitig zu öffnen. Mehr denn je brauchen wir Geduld, Vorsicht und Verantwortungsbewusstsein.
Das Coronavirus gibt eben keinen Raum für den typisch belgischen Kompromiss, analysiert De Standaard. Wenn man einen Wasserhahn etwas mehr aufdreht, muss man den anderen entsprechend zudrehen. Aufgabe der Politik ist es, eine Wahl zu treffen. Und man hat sich für die Wirtschaft entschieden. Und das ist nachvollziehbar: Viel zu viele Arbeitsplätze drohen unwiederbringlich verloren zu gehen.
Dieser Exit ist zudem an Bedingungen geknüpft: Die Corona-Zahlen müssen im grünen Bereich sein. Heißt: Damit das Ganze funktioniert, werden wir noch ein bisschen länger auf unsere Angehörigen und Freunde verzichten müssen.
Roger Pint