"Alten- und Pflegeheime, die große Kakophonie", titelt L'Avenir. "Besuche im Pflegeheim: Die Antwort ist Nein!", so die Schlagzeile von La Dernière Heure. "Senioren lassen Wilmès alt aussehen", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
Die Ankündigung eines begrenzten Besuchsrechtes in Alten- und Pflegeheimen hat für ein regelrechtes Chaos gesorgt. Am Mittwochabend hatte Premierministerin Sophie Wilmès im Namen des Nationalen Sicherheitsrates verkündet, dass die Kontaktbeschränkungen für Alten- und Pflegeheime gelockert würden. Unter gewissen Bedingungen werde es einzelnen Familienangehörigen erlaubt, einen Senior zu besuchen.
Der Sektor fiel aus allen Wolken. Und auch zuständige Politiker reagierten verdutzt bis wütend. Schließlich gehören die Alten- und Pflegeheime nach wie vor zu den Epizentren der Epidemie. Erst sprachen einzelne Bürgermeister Verbote aus, in Flandern setzte der zuständige Minister Wouter Beke die Regelung später ganz aus. "Wouter Beke dreht nur einen Tag später die Besuchserlaubnis für Alten- und Pflegeheime zurück", schreibt Het Belang van Limburg. "Ich war nicht informiert", sagt Beke auf Seite eins von De Morgen.
"Überall Minister, nirgendwo Logik"
"Was für ein Chaos!", beklagt L'Avenir in seinem Leitartikel. Die Maßnahme war bestimmt gut gemeint. Die Erlaubnis, Senioren im Alten- und Pflegeheim zu besuchen, das war tatsächlich eine Antwort auf ein reales Problem. Die Entscheidung war also wohlwollend, aber zugleich weltfremd, weil nicht umsetzbar. Das Geschnatter der Regionen ist aber fehl am Platze; die Ministerpräsidenten saßen schließlich mit am Tisch. Was bleibt, das ist nicht nur ein enormes Durcheinander, das sind vor allem nicht gehaltene Versprechen, insbesondere aus Sicht der Senioren.
La Libre Belgique schlägt in dieselbe Kerbe: Die Ankündigung hatte bei vielen Senioren für turmhohe Hoffnungen gesorgt. Denn: Jeder weiß, wie sehr diese Menschen unter der Einsamkeit leiden. Nur: Anscheinend war die Maßnahme nicht mit dem Sektor abgesprochen. Unglaublich! Ein kapitaler Bock! Schuld ist wohl auch die politische Organisation dieses Landes, wo die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Für die künftigen Entscheidungen verheißt das nichts Gutes.
La Dernière Heure wird deutlicher: "Überall Minister, nirgendwo Logik", meint das Blatt lapidar. In Belgien gibt es neun Gesundheitsminister. In Normalzeiten kann man da vielleicht noch drüber lachen. Im Moment ist einem aber nicht mehr danach zumute. Angesichts der hohen Sterberate in Belgien sei inzwischen sogar die Frage erlaubt, ob eine kohärentere Struktur es nicht erlaubt hätte, mehr Leben zu retten.
Kollektives Versagen
Het Laatste Nieuws bemüht sogar Shakespeare: "Es ist was faul im Staate Belgien", meint das Blatt. Nicht nur, dass in diesem Land überdurchschnittlich viele Todesfälle zu beklagen sind. Die Reaktion der Politik auf diese Tatsache ist zudem absolut ungenügend. Das Chaos um das Besuchsrecht lässt alle Beteiligten in der Unterhose dastehen. Aber nicht nur das: Im Wesentlichen versteckt sich die Politik immer noch hinter den Experten. Klar: Die Meinung der Wissenschaftler darf man nicht in den Wind schlagen. Zugleich wird es aber Zeit, dass die Politik ihre Verantwortung übernimmt und auch mal Entscheidungen trifft.
Das Chaos ist kaum nachvollziehbar, meint auch sinngemäß Het Belang van Limburg. Das muss mal einer erklären: Während der CD&V-Vizepremier Koen Geens das Besuchsrecht zunächst in den höchsten Tönen lobte, fiel sein Parteifreund Wouter Beke zeitgleich vom Stuhl. Daraus kann man nur schlussfolgern, dass in den Entscheidungsfindungsprozessen Sand im Getriebe ist. Was lernen wir daraus? Unser politisches Personal ist einfach noch nicht reif für den Ausstieg aus den Ausgangsbeschränkungen. Der echte Feind ist nicht ein externer, die Politik kämpft im Augenblick vor allem gegen sich selbst.
Der Kommentar von Het Nieuwsblad liest sich fast wie ein Fazit von alledem: Das Versagen ist kollektiv, meint das Blatt. Hier hat wohl der eine vom anderen geglaubt, dass der das wohl schon mit dem Sektor abgesprochen hatte. Jeder hat sich in diesem komplizierten Land mit seinen zersplitterten Zuständigkeiten auf den anderen verlassen. Aber noch etwas vereint alle Beteiligten: Sie alle wollten punkten, auch mal etwas Positives vermelden. Stattdessen ist ihnen das Ganze in der Hand explodiert. Mit dem sehr unschönen Nebeneffekt, dass das Vertrauen in den Nationalen Sicherheitsrat damit unterminiert wird.
Ein Vorgeschmack für zukünftige Abwägungen
Dieser leidigen Geschichte kann man aber auch zumindest einen positiven Aspekt abgewinnen, sind sich Le Soir und De Standaard einig. An diesem Beispiel sieht man, wie heikel, wie schwer, wie komplex, die anstehenden Entscheidungen in Wahrheit sein werden. Die Saga um das Besuchsrecht in Alten- und Pflegeheimen zeigt anschaulich, welche Schwierigkeiten auf die Entscheidungsträger warten, meint De Standaard. Jeder Beschluss wird haarfein abgewogen sein müssen. Le Soir sieht das genauso: Allein diese Geschichte zeigt, dass das Verhängen von Ausgangsbeschränkungen noch vergleichsweise leicht war. Die Maßnahmen zu lockern, das ist eine ganz andere Geschichte. Mit wohl immer wieder einer zentralen Frage: Wie schafft man es, dafür zu sorgen, dass nicht alle bisherigen Anstrengungen mit einem Mal wieder zunichte gemacht werden?
Man wird ab jetzt ständig nach Kompromissen suchen müssen, glaubt De Morgen. Ein Gleichgewicht zwischen den menschlichen und wirtschaftlichen Nöten einerseits, und der begründeten Angst vor dem Virus auf der anderen Seite. Zwischen Verfechtern und Gegnern von Lockerungen. Oder, im vorliegenden Fall ganz konkret: Zwischen den Leiden der Altenheimbewohner und denen des Personals. Diese Übung ist um einiges komplizierter, als alle Bürger dazu zu verdonnern, drinnen zu bleiben...
Roger Pint
Belgien hat also 9 Gesundheitsminister. Ich hoffe, richtig gelesen zu haben.
Die belgische Politik sollte sich wirklich fragen, ob sie auf dem richtigen Dampfer ist.
Und der Bürger hat nichts davon außer hohen Kosten. Die das zu verantworten haben, gehören in eine Irrenanstalt.
Herr Scholzen.
Eine reicht da wohl nicht. Um alle unterzubringen müssten noch 10 gebaut werden.
Spaziergang = Erlaubt. Joggen = Erlaubt. Fahradfahren = Erlaubt.
Sich alleine auf einer Bank setzen = Strafbar????? Was ist das für ein Irrsinn???